BIS(S) ZUM ERSTEN SONNENSTRAHL
darüber nachdenken, wie leicht oder wie schwer es wäre, mich
jetzt sofort
umzubringen. Er redete einfach nur mit mir.
»Wie lange bist du schon bei Riley?«, fragte ich neugierig.
»Seit elf Monaten jetzt.«
»Wow! Dann bist du ja älter als Raoul.« Diego verdrehte die Augen und spuckte Gift über die Kante des Gebäudes. »Ja, ich kann mich noch erinnern, als Riley dieses Gesocks mitgebracht hat. Seitdem ist alles immer schlimmer geworden.«
Ich schwieg einen Moment und überlegte, ob er alle, die jünger waren als er, für Gesocks hielt. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte. Was irgendjemand über mich dachte, machte mir schon lange nichts mehr aus. Es war nicht mehr nötig. In Rileys Worten war ich jetzt eine Göttin. Stärker, schneller,
besser.
Kein anderer zählte.
Dann stieß Diego einen leisen Pfiff aus.
»Na also. Es braucht nur ein bisschen Hirn und Geduld.« Er zeigte nach unten über die Straße.
Halb versteckt in einem nachtschwarzen Durchgang beschimpfte ein Mann eine Frau und ohrfeigte sie, während eine andere Frau schweigend zusah. Von ihren Kleidern her zu schließen, waren es ein Zuhälter und zwei seiner Mädchen.
Das war es, was Riley uns gesagt hatte. Dass wir Jagd auf den »Abschaum« machen sollten. Die Menschen nehmen, nach denen niemand suchen würde, diejenigen, die nicht auf dem Weg nach Hause zu einer wartenden Familie waren, diejenigen, die man nicht als vermisst melden würde.
Genau so hatte er uns auch ausgewählt. Mahlzeiten und Götter, beide hatten zum Abschaum gehört.
Im Unterschied zu manchen anderen tat ich immer noch, was Riley uns sagte. Nicht, weil ich ihn mochte. Dieses Gefühl war schon lange verschwunden. Sondern weil das, was er uns sagte, so klang, als wäre es richtig. Was für einen Sinn hatte es, Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass ein Haufen neugeborener Vampire Seattle als seine Jagdgründe beanspruchte? Wie sollte uns das helfen?
Ich hatte überhaupt nicht an Vampire geglaubt, bevor ich selbst einer geworden war. Wenn auch der Rest der Welt nicht wusste, dass es Vampire gab, hieß das, dass alle anderen Vampire auf intelligente Art jagten, so wie Riley es uns eingeschärft hatte. Dafür gab es wahrscheinlich einen guten Grund.
Und genau, wie Diego sagte, brauchte es nur ein bisschen Hirn und Geduld, um auf intelligente Art zu jagen.
Natürlich machten wir alle trotzdem genug Fehler und dann las Riley davon in der Zeitung und stöhnte und schrie uns an und zertrümmerte Sachen - wie zum Beispiel Raouls geliebte Videospielkonsole. Davon wurde Raoul so wütend, dass er irgendjemand anderen in Stücke riss und verbrannte. Das wiederum machte Riley noch viel wütender und er veranstaltete mal wieder eine Suchaktion, um alle Feuerzeuge und Streichhölzer zu beschlagnahmen. Nach ein paar solcher Runden schleppte Riley noch mehr in Vampire verwandelten Abschaum an, um die zu ersetzen, die draufgegangen waren. Es war ein endloser Kreislauf.
Diego sog die Luft durch die Nase - ein tiefer, langer Zug - und ich beobachtete, wie sein Körper sich veränderte. Er kauerte sich auf das Dach, mit einer Hand an der Kante. Seine ganze seltsame Freundlichkeit verschwand und er wurde zum Jäger.
Das war etwas, das ich kannte, etwas, womit ich mich wohlfühlte, weil ich es verstand.
Ich schaltete mein Gehirn ab. Wir waren zum Jagen hier. Ich holte tief Luft und atmete den Geruch der drei da unten ein. Es waren nicht die einzigen Menschen in der Gegend, aber die, die uns am nächsten waren.
Wen
man jagen wollte, musste man entscheiden,
bevor
man seine Beute roch. Jetzt war es zu spät, um noch irgendetwas zu ändern.
Diego ließ sich von der Dachkante fallen und verschwand aus meinem Blickfeld. Das Geräusch seiner Landung war zu leise, um die Aufmerksamkeit der drei Menschen im Durchgang zu erregen.
Ein leises Knurren drang zwischen meinen Zähnen hervor. Meins. Das Blut war
meins.
Das Feuer in meiner Kehle loderte auf und ich konnte an nichts anderes denken.
Ich stieß mich vom Dach ab und schoss über die Straße, so dass ich direkt neben der weinenden Blondine landete. Ich konnte Diego dicht hinter mir spüren, daher knurrte ich ihn warnend an, während ich das überraschte Mädchen an den Haaren packte. Ich zerrte sie zur Wand des Durchgangs und stellte mich mit dem Rücken dagegen. In Verteidigungshaltung, für alle Fälle.
Dann dachte ich nicht länger an Diego, denn ich konnte die Hitze unter ihrer Haut spüren und das Pochen ihres
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