Bissgeschick um Mitternacht
Helene eine Flugpost mit einer Fledermaus, in der sie ihr alles über die bevorstehende Verpuppung mitteilten.
Mihai und Elvira warteten schweigend im Wohnzimmer. Auch sie hingen still ihren Gedanken nach. Mihai dachte an die lauwarme Julinacht, in der er Daka das Fliegen beigebracht hatte, und an die frische Oktobernacht, in der auch Silvania die ersten Flugmeter gelangen. Er erinnerte sich mit einem verklärten Lächeln auf dem Gesicht an die darauffolgenden herrlichen Ausflüge in den transsilvanischen Wäldern. Mit immer größerem Unbehagen wurde ihm bewusst, dass ab morgen alles anders sein konnte. Dass er womöglich nie mehr mit seinen Töchtern die nächtlichen Lüfte durchstreifen würde. Schließlich schüttelte er den Gedanken ab wie Weihwasser. Seine Töchter würden gewiss als echte Vampire aus der Verpuppung hervorgehen. War es nicht meistens so, dass die Töchter mehr nach dem Vater gerieten? Er musste nur fest genug daran glauben.
Elvira Tepes hatte ein Fotoalbum auf den Knien. Mit wässrigen Augen betrachtete sie ein Foto, das kurz nach der Geburt der Zwillinge aufgenommen worden war. Der Fotograf hatte noch eine der alten Spiegelreflexkameras benutzt. Elvira hatte Silvania im Arm, die zwar leicht verschwommen aussah, aber doch noch gut zu erkennen war. Daka schwebte auf dem Foto in der Luft. Nicht, weil sie schon fliegen konnte, sondern weil Mihai sie auf dem Arm hielt, den man auf dem Foto allerdings nicht sah. Auch Daka selbst war eher zu erahnen als richtig klar zu erkennen.
Elvira Tepes seufzte. Würde sie demnächst die Einzige sein, die auf Familienfotos zu sehen war? Die Einzige, die tagsüber wach war? Die Einzige, die mit beiden Beinen am Boden blieb? Aber vielleicht verwandelten sich Silvania und Daka ja auch in Menschen. Natürlich würde Mihai das sein transsilvanisches Herz brechen. Aber wäre das Leben für sie alle hier in Deutschland dann nicht viel einfacher?
Abflug ins
Ungewisse
A ls über der Reihenhaussiedlung am nördlichen Rand von Bindburg schließlich die Abenddämmerung einsetzte, klemmte sich Oma Zezci die zwei Lamadecken unter den Arm. Wie gut, dass das Team Rose, Gustav und Zezci beim Quiz gewonnen hatte. Mihai Tepes hatte in der ganzen Stadt ohne Erfolg nach Lamadecken gesucht.
Oma Zezci, Silvania und Daka traten durch eine Luke auf das Dach des letzten Reihenhauses im Lindenweg. Dort, wo die Sonne vor einer halben Stunde untergegangen war, hing wie ein letzter Gruß von ihr nur noch ein violetter Streifen am Himmel. Ansonsten hatte sich die Nacht mit dunkelblauem Gewand über die Stadt gelegt.
Elvira Tepes drückte erst Silvania, dann Daka. Sie lächelte, während sich in ihren Augen abermals Tränen sammelten. Sie fuhr Silvania über die Haare und Daka über die Wange, doch sie brachte kein einziges Wort über die Lippen.
Mihai umarmte beide Töchter gleichzeitig. So doll, dass sie fast keine Luft mehr bekamen und sich beinahe auf der Stelle in tote Halbvampire verpuppt hätten. »Azdio, meine Töchter«, sagte er und sein Lakritzschnauzer bebte. »Morgen sehen wir uns wieder. Und egal, was aus euch geworden ist, morgen wird richtig gefeiert.«
Silvania und Daka nickten. Auch wenn ihnen im Moment gar nicht nach Feiern zumute war.
Kurz darauf hoben zwei Halbvampire, eine Vampiroma und zwei Lamadecken vom Dach des letzten Reihenhauses im Lindenweg ab und tauchten in die dunkelblaue Nacht.
Plan mit
doppeltem Netz
H inter der Terrassentür im Haus Nummer 21 im Lindenweg funkelten zwei katzengrüne Augen. »Angenehmen Flug. Und kommt recht bald wieder«, flüsterte Dirk van Kombast mit Gangsterstimme und sah den drei fliegenden Gestalten nach, die immer kleiner und bald mit dem Nachthimmel eins wurden.
Er nahm mit spitzen Lippen ein Schlückchen von seinem Gemüsesaft, behielt ihn einen Moment im Mund und schluckte ihn dann genüsslich herunter. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wohin die Nachbarkinder mit ihrer Oma und zwei Lamadecken um diese Uhrzeit flogen. Und es war ihm auch schnurzpiepegal. Von ihm aus konnten sie einen Deutschlandrundflug oder eine Tour de France machen. Hauptsache, sie kamen wieder. Und Dirk van Kombast war sich ziemlich sicher, dass sie in den Lindenweg zurückkehren würden. Das hatten die Vampire von nebenan bis jetzt immer getan.
Dieses Mal jedoch war er auf ihre Rückkehr vorbereitet. Dieses Mal wartete eine besondere, atemberaubende Überraschung auf sie. Und dieses Mal wusste er sogar, wann sie zurückkehren
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