Bissige Gäste im Anflug
du mit mir alleine reden? Ist es etwas Schlimmes?«, fragte Helene. Sie zog sich an den Kisten hoch und setzte sich neben Ludo.
Ludo wiegte den Kopf. »Ein bisschen schlimm vielleicht.«
Helene schluckte. »Okay. Ich bin bereit.«
Ludo rollte die Lippen nach innen, die Augen nach oben und überlegte einen Moment, wo und wie er am besten anfangen sollte. So, dass Helene nicht gleich auf dem Kistenstapel nach hinten wegklappte. Er räusperte sich. »Seit ein paar Tagen verfolgt mich ein Geist. Ich habe euch nichts davon erzählt, weil ich euch vor der Nachtwanderung zum Knochenhügel nicht beunruhigen wollte. Es ist ein ganz besonderer Geist. Er zeigt sich mir nie – also zumindest nicht in menschenähnlicher Gestalt wie die meisten anderen Geister, die ich bisher gesehen habe. Dieser Geist ist nur ein Nebelschleier. Fein, leise und eiskalt.« Ludo schielte zu Helene.
Helene nickte. Ludo hatte ihnen schon oft von Geistern erzählt, die ihn besuchten. Manche wollten nur reden, andere hatten bestimmte Wünsche oder Aufträge an Ludo. Da Ludo die seltene Gabe hatte, die Geister der Toten zu sehen, fühlte er sich verpflichtet, ihnen zu helfen.
Ludo fuhr fort: »Ich spürte immer genau, wann er da war. Auf einmal wurde es eiskalt, dann kam der Nebel angekrochen. Meistens legte der Geist sich um meine Schultern oder um meinen Hals. Angenehm war das nicht gerade. Zuerst redete der Geist nie mit mir. Ich dachte, vielleicht ist er stumm oder spricht eine seltene Sprache. Aber er musste auch gar nichts sagen. Ich spürte auch so, dass er etwas von mir wollte. Ich verstand lange nicht, was es war – ob er mir drohen wollte oder mir Angst machen. Dann wurde mir klar, dass er mich um Hilfe bat.«
»Und wobei solltest du ihm helfen?« Helene genoss die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen ausbreitete. Sie liebte unheimliche Geschichten. Vor allern, wenn man sie in der Morgendämmerung auf einem Stapel Obstkisten auf dem Großmarkthallengelände erzählt bekam. Trotzdem hoffte sie, dass die Geschichte nicht zu unheimlich wurde und vor allem, dass sie ein glückliches Ende nahm. Das waren die besten Geschichten.
Ludo sah kurz zu Helene. »Der Geist wollte, dass ich dich beschütze. Dass ich auf dich aufpasse. Dass ich dich vor den Transgiganten rette.«
»MICH?«
Ludo sah nach unten und nickte.
»Aber ... aber ... aber wieso denn?« Helene kniff sich gleichzeitig in den Arm und biss sich auf die Unterlippe.
Ludo kratzte sich hinter dem Ohr. »Wie das alles so ganz genau funktioniert hat, weiß ich auch nicht. Aber der Geist hat gewusst, dass es die Transgiganten auf dich abgesehen haben. Auf dem Knochenhügel, als die Riesenfledermäuse dich greifen wollten, hat er mich auf dich geschubst, damit die Riesenfledermäuse dich nicht entführten.«
»Der Geist hat dich geschubst? Ich denke, er wollte deine Hilfe?« Helene sah Ludo mit großen Augen an.
»Na ja, ist bestimmt nur aus Versehen passiert. Der Geist war einfach verzweifelt. Es hat ihm dann ja auch leidgetan. Deswegen hat er mich vorhin aus dem Kühlraum befreit und uns alle gerettet.«
»ER hat uns gerettet? Du meinst, der Geist hat das Schrille Q ausgestoßen?«
»Kann man so sagen.« Ludo runzelte die Stirn, als er sich an die Situation in der Lagerhalle erinnerte. »Er hat so seltsam mit mir geredet und gesagt, ich soll das Fenster einschlagen. Ich nehme an, dann ist er nach draußen und hat dabei diesen furchtbaren Ton gemacht.«
Obwohl Helene unentwegt nickte, konnte sie Ludo kaum folgen. Ein Geist wollte sie vor den Transgiganten beschützen? Er hatte Ludo geschubst? Und war dann in die Lagerhalle gekommen, hatte Ludo gesagt, er solle ein Fenster einschlagen und hat dadurch diesen schrillen Ton erzeugt? Alles, um sie zu retten? Helene hörte auf einmal auf zu nicken und wandte den Kopf langsam zu Ludo. Sie sah ihn mit großen bangen Augen an. »Ludo?«
»Ja?«
»Was ist das für ein Geist?«
Ludo hatte befürchtet, dass Helene diese Frage früher oder später stellen würde. Er rutschte ein Stückchen näher an sie heran. Einen Moment lang überlegte er, ob er ihre Hand nehmen sollte. Aber vielleicht würde das alles nur noch schlimmer und dramatischer machen. Lieber sah er Helene fest in die Augen und sagte ganz leise: »Ich glaube, der Geist, der mich die ganzen letzten Tage verfolgt hat, der mit uns auf dem Knochenhügel war und der mich aus dem Kühlraum befreit hat, ich glaube, dieser Geist, der dich unbedingt beschützen will, er ... er ...
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