Bissige Gäste im Anflug
also, er ...«
»Ja?«
»Dieser Geist steht dir sehr nahe.«
»Wie nahe?«
»Ganz doll nahe.« Jetzt legte Ludo doch seine Hand auf die von Helene. Das war auch gut so, denn Helenes Hand zitterte bereits.
»Und das bedeutet?« Helenes Stimme klang wie ein schiefes Mundharmonikaquietschen.
»Dieser Geist würde alles für dich tun.« Ludo holte tief Luft. »Ich glaube, dass es der Geist von deiner Mama war.«
Einen Moment wurde es ganz ruhig. Nur Helenes Atem war zu hören. Schnell und laut, als würde er sich gleich überschlagen.
»Also, ganz genau weiß ich es nicht«, fuhr Ludo leise fort. »Ich habe den Geist ja nie richtig gesehen, immer nur den Nebel. Aber was der Geist zu mir gesagt hat, wie er sich benommen hat und seine ganze Art ... Ich bin mir schon ziemlich sicher.« Ludo schielte zu Helene.
Sie starrte geradeaus. Ihre Augen waren verschwommen. Ihr Kinn zitterte.
Ludo rutschte noch etwas näher an Helene heran und legte den Arm um sie. Auf einmal kam ihm Helene viel kleiner vor, als sie ihm immer erschienen war. Ludo war gar nicht aufgefallen, dass Helene nie von ihrer Mama sprach. Er wusste, dass ihr Papa Zahnarzt war. Er wusste, dass Helene Horrorfilme, Fußball und Spinnen mochte. Er wusste, dass sie ein Hörgerät hatte, sich gerne die Arme bemalte und zu jeder Tageszeit fünf Portionen Pommes mit Majo und Ketchup verdrücken konnte. Aber über Helenes Mama wusste er nichts.
»Was ist eigentlich mit deiner Mama passiert?«, fragte er vorsichtig. »Ich meine, du musst es mir nicht erzählen. Aber jetzt, wo ich sie kennengelernt habe ...«
Helene schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Das ist schon lange her. Ich war damals drei Jahre alt. Ich kann mich selbst an gar nichts erinnern. Mein Papa hat mir alles irgendwann erklärt.« Helenes Stimme klang wie durch eine Luftpumpe gepresst. »Mama und ich sind mit dem Auto gefahren. Im Winter. Es gab Glatteis. Und dann stand plötzlich ein Lastwagen quer auf der Straße vor uns. Mama hat gebremst, der Wagen ist von der Straße geschlittert. Vor einen Baum. Die Ärzte konnten Mama nicht mehr retten. Ich hätte damals beinahe mein Gehör verloren. Deswegen trage ich dieses Hörgerät.« Helene atmete aus und durch ihren Körper ging ein kleines Erdbeben. »Es erinnert mich immer daran, dass ich an dem Tag viel mehr verloren habe als nur meinen normalen Gehörsinn.«
Ein paar Sekunden lang hielt Ludo Helene einfach nur fest. Ganz doll. In dem Moment wünschte er sich, er könne nicht nur mit Geistern reden, sondern sie auch wieder in lebendige Menschen verwandeln.
Helene schniefte.
Ludo zwängte die Hand in die Hosentasche und suchte nach einem Taschentuch. Er zog das Erstbeste heraus, was er zwischen die Finger bekam, und hielt es Helene hin. Es war ein zerknittertes Salatblatt.
Helene nahm das Salatblatt, ohne hinzusehen, und schnaubte hinein. »Wie ist meine Mama? Als Geist, meine ich.«
Ludo überlegte. »Am Anfang fand ich sie etwas unheimlich. Aber das geht mir bei allen Geistern so. Auf jeden Fall ist deine Mama anders als alle anderen Geister, die ich bisher erlebt habe. Sie ist ... na ja, so nebulös, nicht zu fassen, und auch sehr sanft.«
»Es sei denn, sie schubst dich.«
»Ja, das war etwas unsanft. Trotzdem ist sie ein netter Geist. Sie hat mich im Kühlraum in den Schlaf gewiegt und mit Spinatblättern zugedeckt. Und dass sie mich auf dich geschubst hat, zeigt ja nur, wie sehr sie dich liebt und dich beschützen will.«
»Du meinst, sie passt immer noch auf mich auf?« Helenes Augen füllten sich mit Tränen.
Ludo nickte.
»Aber wieso ist sie nicht gleich zu mir gekommen, sondern zu dir?«
»Vielleicht wollte sie dich nicht verschrecken. Oder dir wehtun. Mit all den Erinnerungen, verstehst du? Vielleicht kannst du sie aber auch gar nicht wahrnehmen wie ich. Du weißt doch, ich habe diese Gabe.«
»Meinst du, sie ist jetzt noch hier?« Helene schielte nach links und nach rechts.
Ludo schüttelte den Kopf. »Das würde ich merken. Seit dem Schrillen Q ist sie verschwunden.«
»Kann ich ihren Geist irgendwo finden? Also, auch ohne die Gabe, die du hast?«
Ludo dachte lange nach. Schließlich antwortete er: »Wenn du in der Morgendämmerung auf eine einsame Waldwiese gehst und an den Tautropfen auf den Blättern riechst, kannst du ihren Geist... na ja, einatmen sozusagen.«
Helene stellte sich eine Waldwiese vor. Darauf sah sie ihre Mutter. Sie war kein Geist, kein Nebel, sondern sah so
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