Bisswunden
Opfer.
»Cat, es ist Zeit, ein paar Anrufe zu machen«, sagt Sean leise.
Er hat Recht.
»Cat? Ich muss …«
Ein dumpfer Schlag lässt Sean mitten im Satz verstummen.
Als ich mich umdrehe, sehe ich eine nackte Frau mit blonden Haaren und einer grünen Plastikhantel in der einen und einem Schlachtermesser in der anderen Hand. Es ist kaum eine halbe Stunde her, dass ich ihr Bild auf meinem Küchentisch studiert habe. Stacey Lorio, sechsunddreißig Jahre alt, diplomierte Krankenschwester und Tochter von Colonel Frank Moreland, unserem ersten Opfer. Sie hat Sean mit einem einzigen Schlag ihrer Plastikhantel bewusstlos geschlagen.Während ich voller Entsetzen auf sie starre, kniet sie nieder und reißt ihm die Glock aus dem Schulterhalfter; dann richtet sie die Waffe auf mich.
»Ich habe mich im Schrank unter der Schmutzwäsche versteckt«, sagt sie zu Angie, wobei sie vor Erregung schwer atmet. »Einen Augenblick habe ich gedacht, er hätte mich gesehen.«
»Warum haben Sie ihn niedergeschlagen?«, frage ich und versuche, nicht zu meiner Handtasche auf dem Plaudersofa zu sehen.
»Halt’s Maul!«, schnappt Lorio und richtet sich auf. Sie ist nicht viel größer als Angie Pitre, doch ihr Körper besteht hauptsächlich aus Muskeln. Sie hat Babystreifen und schlaffe Brüste; ansonsten aber sieht sie aus wie eine Bodybuilderin.
»Wir sind nicht hergekommen, um jemanden zu verhaften, Stacey.«
Sie lacht, dann sieht sie zu Angie. »Das weiß ich besser, du reiche Fotze.«
Ihr Gesicht ist hellrot, und auf ihrer Brust zeigen sich rote Flecken. »Kennen Sie mich, Stacey?«
»Was glaubst du denn? Deine Tante ist das Miststück, das mein Leben versaut hat.«
»Wie bitte?«
»Ja. Sie kam vorbei mit ihren perfekten Zähnen, ihren Tausend-Dollar-Schuhen und ihrer Southern-Belle-Stimme, und plötzlich wusste er nicht mehr, was er wirklich wollte.«
»Wer?«
»Meine Güte! Was glaubst du denn?«
Plötzlich wird mir alles klar. Diese Frau hatte eine romantische Beziehung zu Nathan Malik, bevor meine Tante Ann ihn ihr ausgespannt hat. Warum sollte mich das überraschen? Ann hat sich schon früher von dem einen oder anderen ihrer Psychiater verführen lassen. Und als ich mit ihr am Telefon über die Zahlung von Maliks Kaution gesprochen habe, hat sie getan, als wäre es die natürlichste Sache auf der Welt.
»Sie also haben Dr. Malik getötet!«, denke ich laut. »Sie sind diejenige, die mich im Thibodeaux Motel niedergeschlagen hat!«
»Er hat mir keine andere Wahl gelassen«, sagt sie. »Er wollte uns an die Polizei verraten.«
»Warum hätte er das tun sollen?«
»Um die eigene Haut vor dem Gefängnis zu retten«, sagt Angie Pitre.
»Dr. Malik war nicht in Gefahr, wegen Mordes angeklagt und verurteilt zu werden.«
»Das wissen Sie doch gar nicht«, widerspricht Lorio. »Alles, was ihn wirklich interessiert hat, war sein persönlicher Kreuzzug. Sein Meisterplan. Er wollte, dass wir uns vor einem Gericht verantworten. Er wollte, dass die ganze Welt sieht, wozu uns der sexuelle Missbrauch in unserer Kindheit getrieben hat.«
»Es ist mir egal, wer davon erfährt«, sagt Angie Pitre unvermittelt. »Wir haben getan, was wir tun mussten. Gott allein weiß, wie viele unschuldige Kinder wir damit gerettet haben.«
Lorio sieht Angie an wie eine schützende ältere Schwester. »Das ist richtig, Ang. Aber es ist absolut überflüssig, dein Leben im Gefängnis zu verschwenden. Jedenfalls nicht, um Nathan berühmt zu machen. Die Welt wird nicht verstehen, was wir getan haben. Und viele Männer werden alles daransetzen, dass man die Todesstrafe gegen uns verhängt.«
»Ich denke, Sie irren sich, Stacey«, sage ich mit der demütigsten Stimme, zu der ich fähig bin. »Ich denke, eine ganze Menge Leute würden Sie sehr gut verstehen.«
Sie lacht. »Das ist leicht gesagt. Ich werde mein Leben jedenfalls nicht in einem Gefängnis verbringen, um das Thema der Woche bei Oprah zu sein. Wir haben erreicht, was wir uns vorgenommen haben. Es ist vorbei.«
»Ist es das? Was ist mit mir?« Ich blicke zu Sean hinab, der sich in der Zwischenzeit kein einziges Mal gerührt hat. »Und was ist mit ihm?«
»Ihr beide habt eure Nasen in Dinge gesteckt, die euch nichts angehen. Ich kann nichts daran ändern.«
»Wollen Sie mich töten? Ich bin genau wie Sie, Stacey. Auch ich wurde als Kind missbraucht, genau wie Sie.«
»Du bist wie ich?« Ihre Augen sind kalt. »Du bist ganz bestimmt nicht wie ich!«
»Sind Sie denn so blind, Stacey?
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