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Bitte Einzelzimmer mit Bad

Bitte Einzelzimmer mit Bad

Titel: Bitte Einzelzimmer mit Bad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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endlich ihre Entschädigung erhielt, kaufte sie sich im Vorort Ratingen eine Eigentumswohnung und bemühte sich seitdem, ihre keineswegs magere Pension angemessen zu verleben. Zwei gleichgesinnte Damen, mit denen sie regelmäßig Canasta spielte, halfen ihr dabei.
    Antonie Pabst geborene Marlowitz hatte in den ersten Ehejahren noch im Geschäft mitgeholfen, aber als sie feststellte, daß ihr Ernst das auch allein schaffen würde beziehungsweise im Bedarfsfall festbesoldete Fachkräfte einstellen konnte, zog sie sich aus dem Berufsleben zurück und widmete sich nur noch ihren eigentlichen Neigungen, nämlich dem Haushalt und dem Kochen. Als Tinchen geboren wurde, hatte Antonie den Kampf mit der Waage bereits aufgegeben. Sie war nun mal kein junges Mädchen mehr, sie war eine verheiratete Frau und Mutter. Außerdem aß der Ernst gerne gut, und daß sie eine ausgezeichnete Köchin war, wußte sie selber. Aber wer hatte schon jemals einen dünnen Koch gesehen? Daß Tinchen nicht auch schon im Schulalter zu einer kleinen Tonne herausgefüttert worden war, hatte sie in erster Linie dem unerwarteten und reichlich verspäteten Erscheinen ihres Bruders Karsten zu verdanken. Die mütterliche Fürsorge wandte sich jetzt vorwiegend dem Nachkömmling zu, und niemandem fiel es auf, wenn Tinchen ihren Teller nicht mehr leer aß, sondern die Reste im Abfalleimer verschwinden ließ. Karsten dagegen schien ein Faß ohne Boden zu sein. Gleichgültig, was seine Mutter (und später er selbst) hineinstopfte, er blieb dünn und schlaksig – genau wie sein Vater.
    So war Frau Antonie die einzige in der Familie, die ihre Garderobe lediglich nach dem Angebot und nicht nach den persönlichen Wünschen zusammenstellen mußte, weil es die erwählten Modelle selten in den Größen 46 oder 48 gab. War sie wieder einmal mit einer mausgrauen Bluse statt der erträumten roséfarbenen nach Hause gekommen, beschloß sie eine rigorose Änderung des Speisezettels, die jedoch nur bei den übrigen Familienmitgliedern zu dem erwünschten Gewichtsverlust führte. Antonie konnte sich jedenfalls nicht mehr erinnern, wann die Waage bei ihr zum letzten Mal unterhalb der Achtzig-Kilo-Marke stehengeblieben war. Seitdem gab es für sie auch keine aufregendere Beschäftigung mehr als die, andere Frauen zu entdecken, die noch dicker waren.
    »Du solltest regelmäßig radfahren!« hatte Herr Pabst empfohlen und seiner Frau zum Hochzeitstag einen Hometrainer gekauft. Jetzt benutzte er ihn selber.
    »Du solltest jeden Tag spazierengehen!« hatte Tinchen angeregt und ihrer Mutter zum Geburtstag ein reich bebildertes Pilzbuch geschenkt. »Häufiges Bücken ist die beste Gymnastik!«
    Frau Pabst fuhr lieber Straßenbahn.
    »Vielleicht solltest du mal eine mehrwöchige Schlafkur in einem Sanatorium machen«, hatte Karsten vorgeschlagen, »so eine, bei der man unter ärztlicher Aufsicht steht und gar nichts ißt. Ich habe dir ein paar Prospekte mitgebracht.«
    Frau Pabst wollte nicht. »Soll ich vielleicht einen Haufen Geld ausgeben, nur um zu schlafen und nichts zu essen? Das kann ich auch hier zu Hause haben. Sogar viel billiger. Überhaupt ist es unmoralisch, Geld für gar nichts zu verlangen.« Mißvergnügt blätterte sie im Prospekt. »Was nützt mir wohl ein Einzelzimmer mit Balkon und Blick in den parkähnlichen Garten, wenn ich immer die Augen zu habe? Außerdem ist es ganz ungesund, so rapide abzunehmen. Frau Freitag sagt das auch.«
    Frau Freitag wog noch etwas mehr als Antonie, aber da sie alleinstehend, phlegmatisch und darüber hinaus finanziell unabhängig war. kümmerte sie sich weder um die herrschende Mode noch um irgendwelche sonstigen Schönheitsideale. »Ich versuche zwar ständig, Gewicht zu verlieren, aber es findet mich immer wieder! Nun habe ich es aufgegeben.«
    Schließlich hatte Karsten ein Trostwort gefunden, an das sich Frau Pabst im Notfall klammern konnte: »Du hast schon das ideale Gewicht, Mutti! Du bist bloß ein paar Zentimeter zu klein dafür!« – »Mutsch, könntest du wohl morgen mein Jackenkleid aus der Reinigung holen?«
    Antonie schreckte auf. Was um Himmels willen hatte sie bloß veranlaßt, plötzlich in weit zurückliegenden Erinnerungen zu kramen?
    Ach ja, die Eisenbahn. Tinchens Fahrt nach Frankfurt. Vielleicht hatten sich die Verhältnisse bei der Bundesbahn in der Zwischenzeit wirklich geändert. Die Züge sahen zumindest sehr viel schicker und moderner aus als damals. Allerdings hatte Antonie seit Jahren keinen mehr

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