Bitte Einzelzimmer mit Bad
Marlowitz verborgene Kräfte. Sie wagte sich mit den Resten ihres geretteten Schmucks (der größte Teil war während der Flucht auf rätselhafte Weise abhanden gekommen) in die Abgründe des schwarzen Marktes, wo sie zwar gründlich übers Ohr gehauen wurde, aber dennoch genügend Geld erzielte, um Reiseproviant – ebenfalls auf dem schwarzen Markt und ebenfalls mit Verlust – kaufen zu können. Das restliche Geld ging für Fahrkarten und eine Deutschlandkarte im Maßstab 1 : 300 000 drauf.
Solchermaßen gerüstet bestiegen – vielmehr enterten – Frau Marlowitz nebst Tochter einen der wenigen Züge, die in Richtung Westen fuhren. Daß sie den ersten Teil der Reise auf einer zugigen Plattform verbringen mußten, erschien Antonie noch erträglich.
Es war Sommer und darüber hinaus außergewöhnlich warm. Auch der damals obligatorische Fußmarsch über die Zonengrenze – illegal natürlich, der ortskundige Führer hatte sich mit Frau Marlowitz’ Armbanduhr als Lohn zufriedengeben müssen – war nicht sonderlich anstrengend gewesen.
Die nächsten zweihundert Kilometer Bahnfahrt, eingepfercht in der ohnedies nicht sehr geräumigen Toilette, hatten Antonie das Eisenbahnfahren nun endgültig verleidet. Zu allem Überfluß war man in der französischen Besatzungszone gelandet, obwohl man eigentlich in die britische gewollt hatte. Vermutlich war die bewußte Landkarte daran schuld gewesen, die den veränderten politischen Verhältnissen in keiner Weise Rechnung getragen hatte und immer noch in den Grenzen des Großdeutschen Reiches markiert gewesen war.
Aber nun hatte Antonie helfend einspringen können. Wenn ihr auch die einschlägigen Vokabeln für ›Besatzungszone‹ und ›grüne Grenze‹ nicht geläufig waren, so reichten ihre französischen Sprachkenntnisse immerhin aus, um bürokratische und militärpolizeiliche Hürden zu nehmen. Ausgerüstet mit den erforderlichen Papieren und einer Notverpflegung vom Roten Kreuz bestiegen die Damen Marlowitz erneut einen Zug. Er war nicht ganz so voll, dafür aber erheblich langsamer. Außerdem fuhr er nicht weit. Ein Armeelastwagen, beladen mit Wollsocken und Thunfischdosen, diente als nächstes Transportmittel. Thunfische sind nahrhaft und dank ihres konservierenden Behältnisses nicht so leicht verderblich. Frau Marlowitz ignorierte das siebente Gebot und forderte ihre Tochter auf, ein Gleiches zu tun. Trotz glühender Hitze wickelten sie sich in Mäntel, deren Taschen sich bald verdächtig nach außen wölbten. Auch der Koffer war viel schwerer geworden, was sich nachteilig bemerkbar machte, als die beiden Reisenden den Lastwagen verlassen hatten und zu Fuß zur nächsten Bahnstation pilgerten. Noch nachteiliger wirkte sich das Fehlen eines Büchsenöffners aus. Aber wenigstens hatte der Bahnhofsvorsteher einen an seinem Taschenmesser. Darüber hinaus war er bereit, ein paar Thunfischdosen anzunehmen und dafür zu sorgen, daß die Damen Marlowitz einen Platz im nächsten Zug bekommen würden. Sie bekamen ihn auch, diesmal auf dem Dach, was den Beförderungsvorschriften zwar widersprach, damals aber notgedrungen geduldet wurde.
Irgendwann war die Odyssee zu Ende. Der Bahnhof von Düsseldorf kam in Sicht, wenn auch kaum noch als solcher zu erkennen. Die Pensionatsfreundin gab es auch noch, ebenfalls kaum zu erkennen, weil ergraut und merklich gealtert. Aber sie nahm die Vertriebenen samt den Thunfischdosen auf und beschaffte dank einiger Beziehungen Unterkunft und Erwerbsmöglichkeit für Tochter Antonie. Letzteres übrigens in ihrer Werkstatt.
Der Uhrmachermeister Gfreiner hatte das Kriegsende nicht überlebt. Der Gerechtigkeit halber muß erwähnt werden, daß sein frühzeitiges Ableben nicht auf Bombenangriffe, Straßenkämpfe oder ähnliche Begleiterscheinungen eines Krieges zurückzuführen war, sondern einzig und allein auf seine Vorliebe für Moselweine. Um seinen reich gefüllten Weinkeller nicht in Feindeshand fallen zu lassen, hatte sich Herr Gfreiner gezwungen gesehen, die vorhandenen Bestände möglichst schnell und möglichst restlos zu verbrauchen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er sich angewöhnt, schon sein Frühstück in flüssiger Form zu sich zu nehmen und auch im Laufe des Tages auf feste Nahrung weitgehend zu verzichten. Immerhin entging er einem langsamen Hungertod, indem er ziemlich schnell die Kellertreppe hinunterfiel und sich das Genick brach. Die noch übriggebliebenen Weinflaschen leerten später die zahlreichen Trauergäste
Weitere Kostenlose Bücher