Bitter im Abgang
dachte er. Vielleicht morgen. Heute musste er die neuen Papiere aus Rom studieren. Doch allem Anschein nach waren es immer noch nicht die, auf die er seit fast zwanzig Jahren wartete.
16
Alba,
Sonntag, 25. April 2011, 19 Uhr
Eingehend musterte Tibaldi die Frau, die man ihm aus Genf geschickt hatte. Sie bemerkte es und fragte ihn mit einem Hauch von Arroganz: «Stimmt irgendetwas nicht mit mir?»
Tibaldi war kein Typ, der sich einschüchtern ließ. Er verachtete arrogantes Verhalten. Er hob fast nie die Stimme. Höchstens bei seinen Töchtern, aber nie bei seinen Mitarbeitern. Doch sich abkanzeln zu lassen, das war nicht drin. Schon gar nicht von einer Frau.
«Im Gegenteil. Sie entsprechen genau meinen Vorstellungen.»
«Das heißt?»
«Elegant, in den Dreißigern, blond, Französin, aber mit guten Italienischkenntnissen, groß, entschlossen. Raffiniert, aber nicht distanziert, im Gegenteil, eher mit einem Hauch Disponibilität. Entweder Sie sind Schauspielerin oder die Agentur produziert euch im Labor.»
«So wie Sie Ihre Weine? Wissen Sie, was man in Alba sagt?»
«Gut. Ich sehe, dass Sie professionell arbeiten. Sie haben schon Informationen über mich eingeholt. Dann wissen Sie sicher auch, dass meine Weine nicht im Labor gemacht werden. Sicher, die Weinberge der Langhe reichen bei Weitem nicht mehr aus. Die Trauben kommen aus Apulien, Kampanien, Sizilien. Inzwischen sogar auch aus Tunesien, Marokko und der Türkei; die sind ja ohnehin Muslime und dürfen keinen Alkohol trinken, zumindest theoretisch.»
«Wozu dann diese Druckkessel?»
Tibaldi lächelte. Seine geschäftlichen Termine machte er gern in der großen Fabrikhalle am See. Das war eine Methode, seine Macht zu demonstrieren und zugleich seine Solidität: die Maschinen, die Fabrik – eine ernsthafte Sache.
«Druckkessel? Sie sprechen wirklich sehr gut Italienisch. Aber der Begriff ist falsch. Was Sie Druckkessel nennen, sind Zisternen zur Fermentierung der Trauben, die darin ruhen, um …»
«Dottor Tibaldi, wir haben es hier mit einem Verbrechen zu tun», unterbrach ihn die Blonde, diesmal sanfter. «Ich glaube nicht, dass Sie mich am Sonntagabend herbestellt haben, um mir zu zeigen, dass Sie Ihren Wein nicht im Labor machen. Wenn Sie gestatten, hätte ich gern noch ein paar Informationen.»
«In der Stadt wird man Ihnen auch gesagt haben, dass ich kein Dottore bin und die Diskretion liebe.
Und was die Informationen angeht, die erwarte ich von Ihnen.»
«Sicher. Aber vorher müssen Sie mir die Mittel geben, um die Informationen zu verstehen.»
«Ich höre.»
«Warum wollen Sie unbedingt wissen, ob Moresco ermordet wurde?»
«Das will ich gar nicht. Das weiß ich schon.»
«Und woher, wenn nicht einmal die Polizei …»
«Ich weiß es eben. Noch Fragen?»
«Ja. Was verbindet Sie mit dem Mordopfer? Außer dass sie Konkurrenten sind natürlich.»
«Wir waren keine Konkurrenten. Wir hatten verschiedene Märkte, verschiedene Geschichten.»
«Waren Sie Freunde?»
«Wir kannten uns kaum. Wir grüßten uns, mehr nicht.»
«Gibt es da irgendetwas in der Vergangenheit?»
«Sagen wir mal so, wer etwas gegen Moresco hat, der könnte auch etwas gegen mich haben. Die Stadt ist klein. Unsere Jugend war eine schreckliche Zeit. Einige haben es geschafft, andere nicht. Viele sind mir dankbar dafür, was ich für Alba getan habe. Aber ich kann nicht bei allen beliebt sein.»
«Sie haben also Angst, der Mörder könnte …»
«Nein, ich habe keine Angst um mich. Ich bin gut geschützt. Aber ich bin neugierig. Ich habe gelernt, dass das Wissen um bestimmte Dinge eine Form von Macht darstellt. Dinge auf- und dann wieder zuzudecken, Dinge zu wissen und dieses Wissen für sich zu behalten. Finden Sie heraus, wer Moresco umgebracht hat. Und berichten Sie mir. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Sie bekommen einen Vorschuss auf die Spesen.»
Die Frau versuchte, Zeit zu gewinnen, um noch mehr in Erfahrung zu bringen.
«Bei wem soll ich Ihrer Meinung nach anfangen?»
«Das müssen Sie selbst entscheiden. Da will ich mich nicht einmischen, das ist doch Ihr Metier.»
«Vielleicht bei Morescos Verwandten, bei seinem Sohn.»
Tibaldi lächelte aufmunternd.
«Genau deshalb wollten Sie eine Blonde, in den Dreißigern, Ausländerin, raffiniert und den ganzen Rest. Womöglich sogar mit dem Namen Sylvie», sagte sie mit wachsendem Ärger.
Aber Tibaldi mochte keine Diskussionen, schon gar keine Auseinandersetzungen. Er verabschiedete sich mit einem
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