Bittere Delikatessen
»Alkohol? Du?«
»Ja. Alkohol. Und außerdem – ich wollte dich mal was fragen.« Er lächelte sie an.
»Vergiss es! Sag mir lieber, was du unter Alkohol verstehst.«
Ben war ratlos.
»Wir haben 58 Sorten davon. Etwas präziser, bitte!«
Ben sah sich um. Rauchschwaden, die letzten Kneipenschwärmer. Vor jedem stand ein anderes Glas.
»Alt, Pils, Gin-Tonic?«, drängte die Kellnerin. Sie stützte die Hände in ihre schlanke Taille und schüttelte das braune Haar energisch nach hinten.
»Wein«, beschloss Ben.
Anita seufzte. »Rot oder weiß?«
»Ist egal«, sagte Ben und strahlte sie an. »Ich bin farbenblind.«
Sie stutzte, dann begann sie zu grinsen. »Bist du nicht.«
»Okay, ein Glas trockenen Weißwein, bitte.«
Doch Anita machte keine Anstalten zu gehen.
Sie beugte sich weit über den Tisch, bis sich ihre Nasen fast berührten, und sagte mit einem verschwörerischen Lächeln: »Und was wolltest du mich fragen, Großer?«
»Vergiss es. Vielleicht ein andermal.«
78.
Ben stand an der dunklen Holztür, im Schatten des Vordachs und drückte auf den Klingelknopf.
Die Natur hatte den Regen der vergangenen Nacht eingeatmet, der neue Tag strahlte. Amseln zwitscherten, und es roch nach frisch gemähtem Gras. Ben nahm sich vor, das bevorstehende Wochenende so viel wie möglich an der frischen Luft zu verbringen. Und möglichst nicht allein.
Eine ältere, beleibte Putzfrau in hellblauer Kittelschürze ließ Ben in die Villa. Nora sei im Garten beim Frühstück, erklärte sie ihm.
Er würde heute nicht viel arbeiten. Der Papierkram, die Nachgeburt, wie Ben es nannte, das alles konnte bis Montag warten. Sicher würden sie ihn heute zur Tötung Traubes vernehmen wollen. Der junge Swoboda würde Beistand nötig haben. Doch bevor Ben in die Festung fuhr, wollte er Nora sehen.
Ben trat in den Garten.
Er dachte an Noras Worte: Wenn alles vorbei ist, fahren wir in Urlaub, wir beide. Hand in Hand mit Nora durch Venedig. Oder ein einsamer Strand, eine tropische Insel in einem Meer voller Korallen und bunter Fische. Sie würden schwimmen, faulenzen und sich lieben. Bens Herz klopfte.
Nora saß hinter dem Hibiskusstrauch, mit dem Rücken zu ihm. Der Kimono glänzte golden in der warmen Morgensonne. Mit einem großen Messer schälte sie eine Grapefruit und löste die Filets aus der Frucht. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
Ben blieb neben dem Gesträuch stehen, um den Anblick zu genießen. Eine Welle der Freude ging durch seinen Körper. Ein Gefühl des Verliebtseins, gegen das er sich nicht wehrte, auch wenn er wusste, dass es nicht für immer halten würde.
»Guten Morgen, Nora!«, rief Ben.
Sie drehte sich um und lächelte. »Liebling!«, antwortete sie und sprang auf, um ihn zu begrüßen. Er strahlte zurück und breitete die Arme aus.
Nora Fabian scherte sich nicht darum, dass sich ihr Haar in den Zweigen des Hibiskus verfing.
Ben erstarrte. Sein Verstand hatte Mühe, zu verarbeiten, was er sah. Es erschien ihm wie ein Film, der in Zeitlupe lief.
Nora kam noch immer lächelnd auf ihn zu. Erst als sie seinen Blick bemerkte, erkannte sie, dass die ganze Pracht der langen, blonden Haare zwischen den Blüten hängen geblieben war. Nora fasste sich an den Kopf und riss vor Schreck die Augen auf.
Ihre Haare waren zentimeterkurz, und sie waren grau gefärbt. Sogar daran hatte sie gedacht.
Der Mörder muss sich tarnen, damit der Verdacht auf jemand anders fällt.
Nora Fabian schrie. Ihr Kimono war verrutscht, doch sie achtete nicht darauf. Sie wühlte in der Mähne, die nicht vorhanden war. Die Perücke hing im Strauch. Flora del mundo.
Nora Fabian schrie und zitterte vor Wut.
Die Frau, die sich in einen Mann verwandelte, indem sie ihr Haar abnahm. Sie hatte Tom getäuscht, dachte Ben, und sie hatte ihn getäuscht. Ihn vor allem.
Ben griff nach den Handschellen. Ihm war, als hätte er es geahnt, als er sie eingesteckt hatte.
Es tat weh.
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