Bittere Mandeln
Spiegelglasfassade; während des Tages konnte man zwar hinaus – aber nicht hereinschauen. Vermutlich hatte der Fotograf daran nicht gedacht. Die Jalousien waren nur deshalb angebracht, weil die grelle Mittagssonne manchmal blendete. Tags zuvor hatte Sakura gebeten, die Jalousien herunterzulassen, damit sie ihre Arbeit besser sah.
»Lieutenant, vor dem Kursraum befindet sich ein verdächtiges Paket«, erklärte ein Beamter, der gerade vom Flur hereinkam, und wir folgten ihm hinaus zu Mrs. Moritas furoshiki. Ich erklärte, in dem Paket sei eine Kiste mit Kommissionsware.
»Darf ich trotzdem einen Blick hinein werfen?« fragte mich Hata.
»Aber sicher.«
»Untersuchen Sie sie auf Fingerabdrücke«, sagte Hata, und ein junger Beamter löste den Knoten des furoshiki, um die Fingerabdrücke zu sichern, die sich höchstwahrscheinlich als die von Mrs. Morita und mir erweisen würden.
Als die Kiste dann geöffnet war, wurde der Beamte ganz aufgeregt. »Jemand muß einen dieser alten Teller gestohlen haben. Es ist Platz für zehn in dem Kasten, aber es sind nur noch neun drin.«
»Ich habe nur neun bekommen«, erklärte ich. »Deshalb soll ich auch versuchen, sie zu verkaufen.«
Der Beamte und der Fotograf wechselten einen Blick, der wohl bedeuten sollte, daß mir nicht mehr zu helfen war.
Lieutenant Hata fuhr zusammen mit mir im Aufzug hinunter in den ersten Stock.
»Soll Sie jemand nach Hause begleiten?« fragte er.
»Heißt das, ich kann gehen?« Angesichts meiner Erfahrungen mit der japanischen Polizei überraschte mich das.
»Sie haben ja nicht vor, das Land zu verlassen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nur in den nordöstlichen Teil von Tokio. Meine neue Adresse steht auf meiner Visitenkarte.«
»Wir halten Sie und Ihre Tante auf dem laufenden. Es ist schrecklich, so etwas zu sehen, aber ich weiß, daß Sie die Kraft haben, damit fertig zu werden.«
Lieutenant Hata lieh mir sein Handy, mit dem ich meinen Cousin Tsutomu »Tom« Shimura im St. Luke’s International Hospital anrief. Tante Norie war zu durcheinander, um allein nach Yokohama zurückzufahren, aber sie ließ es nicht zu, daß ich einen Umweg machte und sie nach Hause begleitete. Nachdem ich Tom alles erklärt hatte, versprach er, einen Kollegen um die Übernahme seiner Schicht zu bitten und zum Kayama Kaikan zu kommen, um seine Mutter abzuholen.
Bereits eine halbe Stunde später traf Tom ein. Er trug immer noch seinen weißen Arztkittel über einem unauffälligen grauen Anzug. Einige der Ikebana-Schülerinnen betrachteten ihn mit anerkennendem Blick; er war Anfang Dreißig, sah nicht schlecht aus und trug keinen Ehering, der perfekte potentielle Schwiegersohn also.
»Wie ist das passiert, Rei?« Toms Gesicht war rot, als sei er kilometerweit gelaufen und nicht mit dem Taxi gekommen, aus dem ich ihn gerade hatte aussteigen sehen.
»Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort«, sagte ich auf englisch zu ihm, weil ich es leid war, von den Schülerinnen der Kayama-Schule belauscht zu werden. Anfangs hatten sie sich noch darüber empört, von der Polizei aufgehalten zu werden, doch nun hörten sie fasziniert zu, damit ihnen nur ja kein Klatsch entging.
Tom hatte sich jedoch mittlerweile von mir abgewandt und starrte Takeo Kayama an, der sich so leise mit dem Inspektor der National Police Agency unterhielt, daß wir nichts verstehen konnten. Eigentlich hätte ich Tom gern gefragt, ob er Takeo kannte, aber dazu hatte ich keine Gelegenheit, weil er zu sehr damit beschäftigt war, seine Mutter in das wartende Taxi zu bugsieren.
4
In der Chiyoda-Linie wimmelte es von abendlichen Pendlern. Zum Glück waren es nur noch zwanzig Minuten bis nach Hause. Angestellte männlichen und weiblichen Geschlechts preßten sich gegen meinen Rücken, und Schulkinder füllten den Raum unter meinen Armen. Der U-Bahn-Etikette entsprechend gaben wir vor, nicht zu bemerken, wie nahe wir uns kamen. Es fiel niemandem auf, als ich stumm zu weinen begann.
Vor der Sendagi Station wischte ich mir die feuchten Augen mit einem Papiertaschentuch ab, das mir eine junge Frau mit einem kurzen weißen Kittel gegeben hatte.
»Kirschblütenallergie, neh?« meinte sie mitfühlend. »Die Papiertaschentücher sind ein Geschenk der Nezu Natural Medicine Clinic. Besuchen Sie uns doch einmal!«
Ich schniefte ein Dankeschön und schlug die Sansaki-zaka Richtung Yanaka ein, jenes Viertel aus der Edo-Zeit, das die Bombardements des Zweiten Weltkriegs größtenteils
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