Bittere Mandeln
überstanden hatte und deshalb einen ganz besonderen Charme ausstrahlte. Ich liebte mein Viertel, wo es fast in jeder Straße einen alten Cracker- oder Tofuladen gab, die Bewohner ihre Fahrräder abstellten, ohne sie abzuschließen, und die schmalen Gehsteige mit Topfpflanzen schmückten. Yanaka war heimelig und geschichtsträchtig wie kein anderer Teil Tokios.
Doch sobald ich meine Wohnung betreten hatte, ließ ich die beiden Riegel sowie die Kette an meiner Stahltür einrasten. In dem Viertel war es sicher, aber die Gewohnheiten, die ich mir in meiner Kindheit und Jugend in San Francisco zugelegt hatte, ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ich rollte mich auf meinem Futon zusammen. Der Raum wurde nur von zwei Papierlaternen erhellt und war von Schatten erfüllt. Früher hatte ich das romantisch gefunden, doch an jenem Abend war es gruselig.
Die Polizei hatte uns zwar gehen lassen, aber ich wußte, daß meine Tante sich nicht in Sicherheit wiegen konnte. Schließlich war Norie diejenige gewesen, die die Ikebana-Schere in Sakuras Hals gekauft hatte. Und wir waren ungefähr fünfzehn Minuten vor dem Mord in dem Gebäude aufgetaucht.
Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß eine Verwandte von mir einen Mord beging. Allerdings hatte ich nicht gesehen, was in dem Unterrichtsraum zwischen Norie und Sakura vorgefallen war. Mein Vater hatte mir einmal erklärt, daß Menschen, die einen Nervenzusammenbruch erlitten, durchaus in der Lage waren, Dinge zu tun, an die sie sich hinterher nicht mehr erinnerten. Als Tante Norie den Beamten gegenüber schließlich die Sprache wiederfand, hatte sie geklagt, sich an nichts mehr erinnern zu können, was in dem Unterrichtsraum passiert war. Außerdem hatte sie nichts von ihrer Auseinandersetzung mit Sakura erwähnt. Doch vermutlich war das kein Geheimnis mehr, seit die Polizeibeamten mit den anderen Kursteilnehmerinnen gesprochen hatten.
Ich war zu durcheinander, um etwas zu kochen, also trank ich nur eine Tasse grünen Tee und aß ein paar Bissen senbei. Der salzig-süße Cracker beruhigte meinen Magen und machte mir Appetit auf einen zweiten. Kurz darauf war die Viererpackung leer, und ich ging in den winzigen Raum, der mir als Küche diente, um das Cellophan wegzuwerfen. Dabei entdeckte ich das blinkende Licht meines Anrufbeantworters und drückte auf den Knopf, um mir die Nachricht anzuhören.
»Rei? Hier spricht Lila Braithwaite vom Ikebana-Kurs«, sagte Lila mit ihrer lebhaften Stimme. »Es freut mich, daß Sie angerufen haben, und ich würde mich gerne mit Ihnen über Antiquitäten unterhalten. Morgen vormittag bin ich bis elf zu Hause. Ich wohne in Roppongi Hills, Nummer sechs-null-zwei. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben vorbeizuschauen.«
Offensichtlich hatte sie vor dem Tod von Sakura auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Ich notierte mir die Nummer ihrer Wohnung in Roppongi Hills, wo ich selbst schon gelebt hatte. Bestimmt war ihre Wohnung noch größer als die, die ich mit Hugh geteilt hatte. Das Gebäude zu betreten, wäre sehr unangenehm. Ich malte mir aus, wie ich an dem Portier vorbeiging, der mich kannte, und dann mit dem Aufzug hinauffuhr, um ein paar Stockwerke früher auszusteigen als damals, als ich mit Hugh hier residiert hatte. Nein, das würde ich nicht schaffen.
Ich wählte die Nummer von Lila, weil ich mir vorstellen konnte, daß die Einladung nach dem Vorfall in der Ikebana-Schule ohnehin nicht mehr galt.
»Ach, Sie sind’s!« Lila klang ein wenig atemlos, als sie sich meldete. »Ich bin gerade von der Kayama-Schule zurückgekommen. Die Beamten haben mit uns allen gesprochen. Es war einfach schrecklich. Ich wünschte, ich könnte mich jetzt ein paar Stunden in die Badewanne legen, aber meine Kinder haben Hunger, und ich bin völlig durcheinander.«
»Tut mir leid, Sie zu stören. Ich wollte nur wegen morgen vormittag anrufen. Vermutlich wollen Sie absagen.«
»Morgen vormittag? Ach so, ich habe Sie ja angerufen. Das hätte ich fast vergessen.« Lila schwieg einen Augenblick. »Nein, ich möchte nicht absagen.«
»Aber Sie haben doch gerade erzählt, daß Sie völlig erschöpft sind …«
»Ich mag, wenn sich was rührt! Dann ist das Leben nicht so langweilig.«
Mir war die Frau ein bißchen zu lebhaft. »Tut mir leid, aber für mich ist es ziemlich kompliziert, nach Roppongi zu kommen. Könnten wir uns nicht woanders treffen?«
»Die Kayama-Schule ist auch in Roppongi. Und da waren Sie heute und gestern«, erinnerte sie
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