Bittere Mandeln
leeren Hocker mehr im Kursraum gab, sprang ich von dem meinen auf und bot ihn ihr an. Tante Norie bedachte mich mit einem anerkennenden Blick. Nun war ich also rehabilitiert, hatte aber keinen Platz mehr zum Sitzen und mußte mich ins hintere Ende des Raumes zurückziehen. Ein junger Japaner mit Greenpeace-T-Shirt und Jeans wühlte in einer Schublade mit Ikebana-Utensilien. Ich kauerte mich in eine Ecke, in der ich ihm den Blick auf die Lehrerin nicht verstellte.
»Könnte bitte jemand die Jalousie herunterlassen? Die Sonne stört mich«, sagte Sakura, und Eriko, die gleich beim Fenster stand, tat ihr den Gefallen.
»Wie viele von Ihnen bereits wissen, hat der iemoto mir den Namen Sakura vor vierundzwanzig Jahren gegeben, als ich zur Lehrerin gewählt wurde.« Miss Sato bedachte uns mit einem schmallippigen, überheblichen Lächeln und verstärkte so nur meine instinktive Abneigung gegen sie. »Ich hatte damals ein Arrangement ganz aus Kirschblüten gefertigt, das der Aufgabenstellung jener Stunde widersprach. Aber ich konnte nicht anders, die Blüten waren einfach zu schön. Es war, als habe die Natur Besitz von mir ergriffen.«
Alle Anwesenden schienen völlig verzückt zu sein. Manche der Frauen notierten die Worte sogar in ihren Heften.
»Kayama- sensei hat beim Anblick meines Arrangements gelacht und gesagt, wenn ich die Kirschblüten so sehr liebe, werde er mir den Lehrernamen Sakura geben, um so den blühenden Kirschbaum zu ehren, das Symbol unseres Landes. Und jedesmal zur Kirschblüte bittet er mich um ein spezielles Arrangement für die Schule.«
Tante Norie hatte den Blumennamen »Hasu« – Lotus – erhalten. Sie benutzte ihn nur bei Ikebana-Ausstellungen. Ich glaubte nicht, daß ich selbst lange genug in der Kayama-Schule sein würde, um einen Blumennamen zu bekommen. Ich hatte während meiner Kindheit in Kalifornien schon genug Probleme mit meinem Vornamen »Rei« gehabt, den die Amerikaner nur zu gern mit »ray« – »Strahl« – verwechselten. Und auch in Japan gab es Schwierigkeiten, denn hier wurde mein Name mit einem ungewöhnlichen kanji- Schriftzeichen geschrieben, das so viel bedeutete wie »kristallklar«.
»Wie Sie wissen«, riß Sakura mich aus meinen Gedanken, »ist es eine große Herausforderung, das wahre Wesen von Ikebana – der Himmel und Gott über dem Menschen – zu vermitteln, wenn die gewählten Blumen sich nicht unterscheiden. Wie umgeht man also die Gefahr, zu viel von der gleichen Farbe und der gleichen Form zu verwenden? Genau diese Frage wollen wir uns heute stellen.« Sie warf einen Blick auf den Tisch unmittelbar vor ihr, auf dem sich abgesehen von einem rohrförmigen schwarzen Gefäß nichts befand. »Meine Blumen und meine Ikebana-Schere scheinen noch nicht hier zu sein. Könnte sie mir bitte jemand bringen?«
Ich sah den leger gekleideten jungen Mann neben mir an, den ich mit seinen hohen Wangenknochen, seiner verglichen mit der meinen etwas dunkleren Haut und den espressobraunen Augen gar nicht unattraktiv fand. Er starrte verständnislos zurück, als ich ihn mit einem Nicken zu dem kurzen Botengang ermutigen wollte. Offenbar fühlte er sich nicht angesprochen.
Ein wenig verlegen wandte ich den Blick ab, rührte mich jedoch auch selbst nicht von der Stelle. Ich würde Sakura, die Mrs. Koda so rüde aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, keinen Gefallen tun.
Mari Kumamori, die Frau, die die Seladon-Schale von zu Hause mitgebracht hatte, erhob sich und wandte sich mit einer der höflichsten Anreden an Sakura: »Bitte, Sakura -sama, was darf ich Ihnen bringen?«
»Kirschzweige«, sagte Sakura barsch. »Oder haben Sie während meiner Ausführungen geschlafen?«
Mari huschte errötend in den Vorraum hinaus, in dem auch ich meine Materialien ausgesucht hatte. Sie blieb eine ganze Weile weg. Sakura überbrückte die Pause durch Erzählungen davon, wie der Leiter der Schule sie höchstpersönlich gebeten hatte, Blumen für ein großes Gebinde in der Lobby des Imperial Hotel zu arrangieren.
Als Mari zurückkam, eilte sie sofort zu Sakura und flüsterte ihr etwas zu. Sakura lachte kurz auf und wandte sich dann an die Anwesenden.
»Offenbar sind Kirschzweige bei Kursteilnehmern sehr beliebt. Nun, dann werde ich eben improvisieren. Das sind genau die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, wenn wir uns mit Ikebana beschäftigen. Vergessen Sie nicht, der Ausdruck bedeutet wörtlich ›lebendige Blumen‹. Wir müssen uns also bemühen, mit Hilfe der
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