Bittere Mandeln
sieht sich die Arbeiten an. Die Beurteilung erfolgt nach dem inneren Wert des Werks, nicht nach der Persönlichkeit des Schaffenden«, sagte Norie. »Ich hatte gehofft, daß du an dieser Prüfung teilnehmen würdest, Rei. Natürlich nicht an der nächsten Monat, aber im kommenden Jahr.«
»Ja, dein Arrangement im Mitsutan war wirklich sehr gut«, meinte Eriko.
»Ja?« Norie wandte sich ihrer Freundin zu. »Bitte erzähl mir, was der iemoto gesagt hat.«
»So wild war’s auch wieder nicht«, sagte ich. »Er hat davon gesprochen, wie Takeo und Natsumi als Kinder Iris in einen Bambuszaun gesteckt haben. Ich glaube, er wollte sagen, unser Arrangement hat nicht mehr Wert als das Werk eines Kindes.«
»Ach.« Norie machte ein langes Gesicht. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich in Anwesenheit ihrer Schülerinnen nichts Negatives hätte sagen sollen. Ich hatte meine Tante nicht nur enttäuscht, sondern auch noch dafür gesorgt, daß sie das Gesicht verlor.
»Ich glaube, dem Meister hat das Arrangement gefallen. Es hat schöne Erinnerungen in ihm geweckt«, sagte Eriko. »Rei hat vermutlich die Feinheiten seiner Äußerung nicht verstanden.«
»Ja, natürlich, ich habe immer noch Probleme mit dem Japanischen«, sagte ich meiner Tante zuliebe. »Außerdem ist die bevorstehende Prüfung deiner Schüler sowieso viel wichtiger. Wer wird die Gestecke bewerten?«
Norie schwieg einen Augenblick zu lange. Da sprang eine ihrer Schülerinnen ein: »Sonst hat Miss Sakura Sato das immer gemacht!«
»Manchmal sie, manchmal andere Meister«, berichtigte Norie sie.
»Könntest du so eine Beurteilung auch übernehmen?« fragte ich meine Tante.
»Nein, weil deine Tante und ich keine hochrangigen Lehrer sind«, rief Eriko mir wieder ins Gedächtnis. »Ich vermute, die Bewertung übernimmt entweder Mrs. Koda oder, um der Familientradition Genüge zu tun, Natsumi Kayama.«
»Hoffentlich macht’s Mrs. Koda. Sie hat viel Erfahrung, und sie war sehr nett. Einige der fortgeschritteneren ausländischen Schülerinnen wie zum Beispiel Lila Braithwaite würden die Prüfung sicher gern absolvieren, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gäbe«, sagte ich.
»Schülerinnen aus dem Westen brauchen keinen echten Abschluß«, widersprach Eriko. »Für sie ist es nur ein nettes Hobby während der Jahre, die sie in Japan verbringen. Wenn sie dann nach Hause zurückkehren, können sie den anderen Damen im Gartenclub etwas Hübsches zeigen.«
»Warst du denn schon mal im Westen und in einem dieser Gartenclubs?« fragte ich Eriko in etwas zu scharfem Tonfall. Es paßte mir nicht, wie sie über meine Landsleute sprach.
»Natürlich nicht. Aber ich habe Frauen aus dem Westen kennengelernt.« Eriko hob die Augenbrauen, die die Form zweier vollkommener Halbmonde hatten.
»Wir sollten nie vergessen, daß es die Ausländer waren, die die Kayama-Schule vor dem Untergang bewahrt haben«, mischte sich meine Tante völlig überraschend ein. »Nach dem Krieg hatten die meisten Japaner nicht einmal genug Geld, um Reis zu kaufen, geschweige denn Blumen. Die einzigen, die sich Ikebana-Kurse leisten konnten, waren die Amerikaner. Die Frau eines Admirals wurde Schülerin der Kayama-Schule, und ihr folgten viele andere Frauen aus dem Westen. Sie haben großzügig gespendet, um die Schule am Leben zu erhalten, bis auch die japanischen Frauen wieder in der Lage waren, sich Kurse und Blumen zu leisten.«
Nun wandte meine Tante sich den Arbeiten ihrer Schülerinnen zu. Sie machte nur kleine Vorschläge: die Drehung eines Zweiges zum Beispiel, so daß das Arrangement aus allen Blickwinkeln hübsch wirkte, oder die Neuanordnung von Farnen, so daß sie aussahen, als knospten sie aus der Mitte des Ikebana-Gefäßes heraus. Die Schülerinnen verneigten sich nicht vor Norie, wie sie es bei Sakura oder dem Leiter der Schule getan hatten. Sie konzentrierten sich vielmehr auf ihre Ratschläge.
Während meine Tante sich mit ihren Schülerinnen beschäftigte, flüsterte Eriko mir zu: »Ich wollte dich durch das, was ich über die ausländischen Schüler gesagt habe, nicht aus der Fassung bringen, Rei-san. Ich betrachte dich als eine von uns. Das war wenig einfühlsam von mir, denn schließlich hast du dich noch nicht ganz von deiner Krankheit erholt.«
»Meiner Tante und Leuten wie dir habe ich es zu verdanken, daß ich auf dem Weg der Besserung bin«, sagte ich. Es entsprach der japanischen Etikette, Gesundheit und Erfolg demjenigen zuzuschreiben, der sich nach dem eigenen
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