Bittere Mandeln
ausstieg, hatte ich schon eine ganze Menge Yumikos, Marikos und Sachikos hinter mir. Frauennamen hatten oft die Nachsilbe -ko, was so viel bedeutet wie »Kind«. Welch ein Glück, daß mich meine Eltern Rei genannt hatten und nicht Reiko, denn das war ein beliebter japanischer Name, der »hübsches Mädchen« hieß. Der Name von Takeos Mutter war Reiko. Hübsches Mädchen. Das Haiku fiel mir wieder ein, aber ich schob den Gedanken weg. Ich entsprach nicht dem japanischen Schönheitsideal, ganz gleich, was Takeo auch sagte.
Der Liste hatte ich entnommen, daß Sakuras Vorname eigentlich Shizuko war, was so viel heißt wie »ruhiges Kind«. Wie unpassend, wenn man bedachte, wie sie Tante Norie angeschrien hatte. Ich rügte mich selbst wegen meiner wenig wohlwollenden Gedanken einer Frau gegenüber, die immerhin ermordet worden war. Jeder Mensch hatte auch gute Seiten – sogar Sakura. Takeo hatte voller Hochachtung von ihr gesprochen, als er mir erzählte, wie sie sich nach dem Tod seiner Mutter um ihn gekümmert hatte.
Mari hatte mir erklärt, daß ich mit dem Bus sieben Minuten vom Bahnhof brauchen würde. Ich hatte zu Fuß gehen wollen, doch sie hatte gemeint, die Straßen seien ungeeignet für Fußgänger. Als ich im Bus die Schnellstraße entlangbrauste, wurde mir klar, was sie gemeint hatte. Wenn man in japanischen Vororten mobil sein wollte, brauchte man einen fahrbaren Untersatz. Während der kurzen Fahrt fielen mir mehrere Supermärkte mit Parkplätzen auf, die mit Geländewagen und kleinen Lieferwagen vollgestellt waren. Es gab so gut wie keine Tante-Emma-Läden und überhaupt keine Teehäuser oder Tofugeschäfte.
Maris Haus befand sich in einer hügeligen Gegend mit Gebäuden, die aussahen, als seien sie alle Ende der achtziger Jahre von ein und demselben Architekten erbaut worden, noch vor der großen Wirtschaftsflaute. Die Häuser bestanden aus einem gelben Material, das wie Ziegel aussah, aber keiner war. Sie hatten Bleiglasfenster und schindelgedeckte Dächer – eine kuriose Mischung aus Details europäischer Architektur, die merkwürdig wirkte, aber sicher sündteuer war.
Ich klingelte und wartete. Dann klingelte ich noch einmal, und nach weiteren fünf Minuten kam ich zu dem Schluß, daß Mari mir wohl nicht aufmachen würde. In der Adresse konnte ich mich nicht geirrt haben, weil ihr Name auf dem Briefkasten an ihrem Tor stand.
Ich wollte gerade meinen Rucksack wieder auf die Schulter schwingen, als ich eine Bewegung seitlich des Hauses wahrnahm. Ich schaute über die Pseudo-Ziegelmauer und sah Mari, wie sie langsam einen Pappkarton zu einem Schuppen mit Blechdach und Fenstern trug. Wahrscheinlich befand sich in dem Schuppen ihr Töpferatelier. Daneben war jedenfalls ein richtiger Brennofen, ebenfalls mit einer Blechüberdachung, und zu meiner Überraschung entdeckte ich sogar einen kleinen Holzschrein auf einem Pfahl. Unter dem Dach des winzigen Schreins saß eine Familie von Bären, alle aus Ton und tiefbraun glasiert. Maris Familienname bedeutete so viel wie »Bär im Wald«.
Schließlich trat Mari ohne den Karton aus dem Schuppen und lächelte mich zurückhaltend an. »Ich habe nicht so früh mit Ihnen gerechnet.«
»Hübsch haben Sie’s hier«, sagte ich. »Ich hätte nie einen Schrein erwartet.«
»Die Bären sind die Schutzgötter des Brennofens. Ich habe sie selbst gemacht, deshalb sind sie nicht besonders gut.«
»Sie sind süß«, sagte ich. »Die könnten sie verkaufen.«
Mari seufzte. »Sie reden immer nur vom Verkaufen. Dafür interessiere ich mich nicht.«
»Ich weiß, daß Sie das zusätzliche Geld nicht brauchen, aber vielleicht würde es Ihnen Spaß machen, sich als Geschäftsfrau zu betätigen.«
»Ich habe auch so Spaß«, sagte Mari und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, daß ich in ihr Töpferatelier eintreten solle. Die Sonne schien zum Fenster herein und erhellte einen großen Arbeitstisch. Eine Töpferscheibe und der dazugehörige Hocker füllten die eine Ecke des kleinen Raumes; die Wände waren bedeckt mit Regalen voller fertiger Ikebana-Gefäße. Mir fiel eine Reihe von Vasen in den klassischen Grau-, Creme- und Brauntönen auf, die die Kayama-Schule gern verwendete, und daneben eine zweite Reihe bunter Gefäße. Sie waren alle in Seladontönen, von hellem Blau bis zu tiefem Gelbgrün. Ich hatte außer Mari nie jemanden gesehen, der in der Kayama-Schule Seladon verwendete. Die kräftige Farbe der Glasur widersprach vermutlich dem Schulmotto »Wahrheit
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