Bittere Mandeln
Argumente zu widerlegen.
Das wirkte. Takeo ließ mich so unvermittelt los, daß ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ich drehte mich nicht um, hörte aber, wie er sich auf den Sessel seiner Mutter zurückzog.
»Sorry. Mein Timing ist nicht gerade gut. Eins hat mein Vater mir immer einzuhämmern versucht, nämlich daß es wichtig ist, Geduld zu haben.«
»Ich glaube, ich gehe jetzt lieber. Die U-Bahn …«
»Natürlich«, sagte er. »Danke, daß du mich nach Hause gebracht hast. Findest du den Weg nach unten allein?«
Große Freude bereitete mir die Aussicht, im Dunkeln ganz allein durch das Kayama Kaikan gehen zu müssen, nicht, aber wenn er mich begleitete, war das angesichts meiner labilen Hormonsituation fast ebenso gefährlich.
Also machte ich mich allein auf den Weg.
20
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich das Gefühl, völlig allein zu sein. Ich hatte es mir mit Takeo genauso verscherzt wie mit Tante Norie. Weder roch ich den verführerischen Duft von miso -Suppe, noch hörte ich das Schlappen ihrer Pantoffeln auf den tatami, wenn sie zur Tür ging, um die Zeitung zu holen. Meine Tante war während ihrer wenigen Tage bei mir immer präsent gewesen, und jetzt fehlte sie mir, genau wie all die anderen Leute, die ich verärgert hatte.
Ich rappelte mich von meinem Futon hoch. Vielleicht war es doch besser, daß Tante Norie mich in diesem Zustand nicht sah. Ich war erst um ein Uhr früh nach Hause gekommen und so durcheinander gewesen, daß ich eine ganze Dreiviertelliterflasche Kirin-Bier getrunken hatte. Doch statt mir beim Schlafen zu helfen, hatte der Alkohol bewirkt, daß ich immer wieder aufgewacht war. Ich hatte lange Minuten damit verbracht, die Digitalanzeige meines Weckers anzustarren und mir mögliche Verbindungen zwischen Sakuras Tod und Takeos Geschichte von einer Mutter, die möglicherweise noch am Leben war, auszudenken.
Am Morgen darauf fühlte ich mich lausig. Während ich darauf wartete, daß das Teewasser zum Kochen kam, rief ich Mari Kumamori an. Es klingelte und klingelte, und allmählich bekam ich Angst, daß sie mir die falsche Nummer gegeben hatte, doch nach dem zehnten Mal hob sie schließlich den Hörer ab. Sie erklärte sich bereit, mich mittags zu empfangen. Dann rief ich bei Tom im Krankenhaus an. Ich mußte mich eine Weile gedulden, bis er an den Apparat kam, und nutzte die Zeit, um meinen Tee zu trinken und ein paar Dehnungsübungen zu machen. Zwar fühlte ich mich noch schwach, aber später wollte ich trotzdem joggen gehen. Das würde mir guttun.
»Hallo, Rei«, sagte Tom irgendwann. »Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du Ärztin, damit sie mich im Krankenhaus ausrufen. Hier auf der Station kennen dich sowieso alle.«
»Das liegt sicher an meinem Akzent.« Ich war ziemlich geknickt.
»Nein, es liegt daran, daß du zu höflich bist. So würde dich niemand für eine Ärztin halten.«
Das sollte wohl so etwas wie ein Kompliment sein, aber mir war nicht nach Scherzen. »Was ist mit deinen Eltern los?«
»Sie haben mir gesagt, daß Vater seinen Job verloren hat. Leicht ist das nicht, aber wir werden’s schon überstehen.«
»Und deine Mutter?«
»Ihr macht das mehr zu schaffen als ihm.«
»Daran bin ich schuld. Ich wollte sie zwingen, mir etwas über ihre Vergangenheit zu erzählen, doch sie war nicht dazu bereit.«
»Aber ich bin bereit. Zumindest kann ich dir etwas über Nolvadex sagen.«
Ich hörte auf mit meinen Dehnungsübungen und zückte mein Notizheft, um mir alles aufzuschreiben.
»Das Medikament wird zur Behandlung von Brustkrebs verwendet«, sagte Tom. »Nachdem man der Frau die Metastasen entfernt hat, muß sie sich für gewöhnlich einer Chemotherapie unterziehen. Und hinterher bekommt sie oft Nolvadex verschrieben, um eine Neubildung von Krebszellen zu verhindern.«
»Ach herrje, ist Brustkrebs hier in Japan nicht ziemlich selten? Ich dachte, Asiatinnen sind praktisch immun dagegen«, sagte ich und tastete rasch meine eigenen Brüste ab. Als mir dabei die Berührung durch Takeos Hände einfiel, bekam ich eine leichte Gänsehaut.
»Es gibt eine Menge Japanerinnen, die unter Brustkrebs leiden, aber die rennen nicht alle mit einem roten Band an der Bluse herum und erzählen jedem davon.«
»Vielleicht sollten sie das. Egal. Glaubst du, man würde dieses Medikament auch einer älteren Frau um die Siebzig verschreiben?«
»Meinst du Mrs. Koda?«
»Ja. Aber bitte sag deiner Mutter nichts davon. Wenn sie das Medikament in einem
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