Bitteres Geheimnis
ihm in sein Büro zu kommen, und bekam nun aus ihrem Mund von dem Wahn zu hören, dem sie völlig verfallen zu sein schien. Anfangs hatte er mit Geduld versucht, sie zur Vernunft zu bringen, doch im Lauf des Gesprächs war er immer gereizter geworden, und schließlich hatte ihn der Zorn gepackt.
»Mary Ann McFarland, du versündigst dich«, sagte er scharf. »Was du da behauptest, ist Blasphemie. Du hattest einen Traum, und das ist alles.«
»Es war eine Heimsuchung«, widersprach sie. »Ich weiß es genau, Pater. lch habe es gefühlt. Ich habe gefühlt, wie der heilige Sebastian seinen Samen in mich einpflanzte. Und Träume fühlt man doch nicht, oder, Pater?«
»Es war eben ein realistischer Traum, Kind.«
»Jetzt weiß ich, warum sie nichts von Gabriel verraten hat.«
»Sie?«
»Die Heilige Jungfrau. Sie wußte, daß man ihr nicht glauben würde. Darum hat sie die Heimsuchung verschwiegen. Das hätte ich auch tun sollen.«
»Das ist eine Anmaßung, Mary, dich mit der Mutter Gottes zu vergleichen. Das lasse ich nicht zu. Genug jetzt mit diesem Unsinn. Deine Eltern und Dr. Wade waren viel zu nachsichtig mit dir, aber ich bin nicht bereit, dieses Theater zu dulden. Ich bin für dein Seelenheil verantwortlich. Du bist eine Katholikin, Mary; du gehörst zur Gruppe derer, denen das Himmelreich und die Liebe Gottesverheißen ist, wenn sie nur seine Gesetze befolgen. Du hast das Privileg, zu beichten und Buße zu tun. So etwas nimmt man nicht auf die leichte Schulter. Um deiner Seele willen, beichte endlich, Mary.«
Aber seine Vorhaltungen hatten nichts gefruchtet. Und als er sie aufgefordert hatte, sich im Interesse ihres ungeborenen Kindes wieder in ärztliche Behandlung zu begeben, hatte sie mit einer Gelassenheit, die ihn fuchsteufelswild machte, erwidert: »Gott wird schon für das Kind sorgen.«
»Gott hat uns Ärzte gegeben, Mary, damit sie hier auf Erden seine Arbeit tun. können. Es ist Gottes Wille, daß du weiterhin regelmäßig zu Dr. Wade gehst. Du darfst die Gesundheit deines Kindes nicht vernachlässigen.«
Am Ende des fruchtlosen Gesprächs war Pater Crispin der Verzweiflung nahe gewesen. »Mary«, hatte er beinahe gefleht, »lege jetzt die Beichte ab. Vertrau dich Gott und der Kirche an. Sie werden deinen Schmerz lindern.«
Aber sie war unerschütterlich geblieben, und wenn er, ihr Beichtvater, sie nicht zur Vernunft bringen konnte, was hoffte dann Dr. Wade heute hier zu erreichen?
Darüber war sich Jonas selbst nicht sicher. Zwei Anliegen hatten ihn an diesem Tag hierhergeführt: Er wollte Marys Unschuld feststellen und er wollte von ihren Eltern die Erlaubnis zu einer Fruchtwasseruntersuchung erwirken.
Bei der letzten Untersuchung - vor jenem. Überraschungsbesuch, bei dem sie ihm mitgeteilt hatte, daß sie nicht wiederkommen würde - hatte Jonas den Eindruck gehabt, daß der Fötus sich normal entwickelte. Aber das reichte nicht. Erst am vergangenen Abend hatte er sich Eastmans Handbuch zur Geburtshilfe vorgenommen und das Kapitel über Anomalien in der Entwicklung durchgelesen. Dabei war er auf eine erschreckende Statistik gestoßen: Dreiviertel aller Missgeburten, wie zum Beispiel anenzephalische Föten - also Föten, bei denen das Gehirn fehlte -, waren weiblichen Geschlechts. Die mögliche Schlußfolgerung aus dieser Tatsache hatte ihn tief entsetzt, daß zumindest einige dieser grauenvoll deformierten Geschöpfe vielleicht durch Jungfernzeugung entstanden waren.
Die Vorstellung, daß Mary ein solches missgebildetes Geschöpf in sich tragen könnte, war ihn unerträglich. Und darum wollte er uni jeden Preis eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen, auch wenn sie noch so viele Risiken mit sich brachte. Er würde darum kämpfen.
Mary stand in ihrem Zimmer und kämmte sich das Haar, als sie die Stimmen Nathan Hollands und Mikes hörte. Bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, durchzuckte es sie, aber sie wußte, daß sie völlig ruhig und beherrscht sein würde. Mike war wie Joseph. Bei Matthäus hieß es, daß Joseph Maria anfänglich hatte heimlich verlassen wollen; aber dann war ihm Gabriel erschienen und hatte ihm alles erklärt. Genauso würde es mit Mike geschehen. Dafür würde Gott Sorge tragen.
Sie hatte keine Ahnung, warum Dr. Wade um diese Zusammenkunft gebeten hatte. Aber es spielte auch keine Rolle. Wenn es ihren Eltern guttat, und die beiden schienen tief erleichtert, als sie hörten., daß er kommen würde, dann war das genug. Sie wußte, daß ihre Mutter und ihr Vater sich
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