Bitteres Geheimnis
Mary? Dein Vater kommt herein, zieht seine Schuhe aus und setzt sich mit mir zusammen vor den Fernseher. Manchmal spielen wir Karten. Oder er richtet mir den Wasserhahn in der Küche. Oder wir setzen uns in den Garten und schauen zu, wie die Sonne untergeht. Und hin und wieder schlafen wir auch zusammen.
Mary, ich weiß, warum du hergekommen bist. Seit dein Vater mir neulich von eurem Gespräch erzählt hat, habe ich dich erwartet. Du hast deinen Vater als Heiligen gesehen. Und jetzt stellst du fest, daß er auch nur ein Mensch ist. Du bist wütend auf ihn - und vermutlich auch auf mich -, daß er dir das antut. Du bist hergekommen, weil du hofftest, du würdest den Heiligen zurückbekommen; du hofftest, ich würde alles bestreiten, und du könntest deinen Vater dann wieder aufs Podest heben. Ich kann es verstehen, ich hatte auch einen Vater ... Aber ich kann dir diesen Gefallen nicht tun, Mary.
Du solltest mich nicht verachten. Das Recht dazu hast du dir noch nicht verdient. Um über mich urteilen zu können, brauchst du selbst erst eine gewisse Lebenserfahrung und Reife. Mein Leben ist einsam, weil ich einen Mann liebe, den ich niemals haben kann. Ich habe mich mit der Zukunft ausgesöhnt. Vielleicht solltest du das auch tun.«
Mary wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Gloria an.
»Ich werde deinem Vater nicht sagen, daß du hier warst«, fuhr Gloria fort. »Wenn du es ihm sagen möchtest, gut, das ist deine Entscheidung. Es gibt Dinge im Leben deines Vaters, die er nur mir erzählt hat, Mary. Nicht einmal deine Mutter weiß davon. Und sie alle haben damit zu tun, daß er hierherkommt. Aber es ist seine Sache, dir davon zu erzählen ...«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Mary. »Es ist, als ob - als ob alles anders geworden wäre.« Sie dachte an Mike und Germaine und ihre Eltern, und an ihr eigenes Leben.. »Nichts ist mehr so, wie es war.«
»Das ist richtig Kind, und nichts im Leben kann für immer so bleiben, wie es ist, so sehr wir uns das auch manchmal wünschen. Als ich damals Sam in der Küche liegen sah, so friedlich, als hätte er sich hingelegt, um ein Nickerchen zu machen, da hatte ich ein Gefühl, als stünde ich am Rand eines schwarzen Abgrunds. Und manchmal, wenn ich es zulasse, kommt dieses Gefühl wieder, und dann kommen mir lauter dumme Gedanken. Ich zerfließe vor Selbstmitleid und sage mir, daß es keinen Sinn hat weiterzumachen. Aber -«
Mary sah erstaunt, daß Gloria die Tränen in die Augen getreten waren. Impulsiv beugte sie sich vor und legte ihre Hand auf Glorias Arm. Die lächelte und drückte ihr die Hand.
»Ich gehöre nicht zu den Frauen, die stumm in sich hineinweinen können, ohne eine Träne zu vergießen. Ich heule und schniefe und kriege ein total verschwollenes Gesicht, wo ich doch von Natur aus schon nicht zu den Schönsten gehöre.« Sie lachte ein wenig. »Ach, du hast schon ausgetrunken. Möchtest du noch eine Tasse?«
Zweieinhalb Stunden später stellte Mary den Chevrolet in der Auffahrt ab, sperrte leise die Haustür auf und trat in den dunklen Flur. Auf Zehenspitzen schlich sie zur offenen Tür des Wohnzimmers, aus dem gedämpftes Licht fiel. Sie war nicht überrascht, ihren Vater dort auf dem Sofa sitzen zu sehen, allein, ein Glas in der Hand. Sein Gesicht war halb im Schatten, die Schultern hingen schlaff nach vorn. Er sah alt und verbraucht aus.
»Daddy!« sagte sie leise.
Er zuckte ein wenig zusammen und sah auf.
Mary trat zaghaft einen Schritt ins Zimmer. Er stellte sein Glas auf den Tisch und sah ihr stumm entgegen. Sie rannte zu ihm, warf sich neben ihn aufs Sofa und schlang die Arme um seinen Hals.
»Ach, Daddy«, murmelte sie. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Sie sprachen bis weit nach Mitternacht miteinander. Er sprach von seiner Beziehung zu Gloria und dann von jenen Dingen in seinem Leben, die er außer dieser Frau bisher keinem Menschen anvertraut hatte.
Ted McFarland glaubte, daß er in einem Zelt am Stadtrand von Tuscaloosa zur Welt gekommen war, aber er war nicht sicher. Seine früheste Erinnerung galt einer stickig heißen Nacht in einem heruntergekommenen Holzschindelhaus, wo es nach Alkohol stank und aus einem Nebenzimmer die gequälten Schreie einer Frau drangen. Er hockte auf dem nackten Holzfußboden, und im milchigen weißen Licht ging ständig ein großgewachsener, hagerer Mann hin und her und murmelte unablässig den Namen. des Herrn. Flüsternde Frauen tauchten flüchtig aus den Schatten und
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