Bitteres Geheimnis
genug war, um sie richtig kennenzulernen. Danach hatte ich nur meinen Vater und meine Brüder. Und später, im Heim, war ich nur in Gesellschaft der anderen Jungen, der Priester und der Laienlehrer, die alle Männer waren. In meinem Leben fehlten die Frauen, verstehst du? Vielleicht lasse ich mich gern von Frauen beherrschen.
Ted stand auf und ging zum Barschrank. Er nahm die Flasche, um sein Glas aufzufüllen, und dann stellte er sie wieder weg. Er drehte sich um und sah seine Tochter an.
»Du möchtest wissen, warum ich mich von ihr herumkommandieren lasse? Vielleicht weil ich meinen Frieden gefunden habe, Mary, und gern möchte, daß auch deine Mutter ihren Frieden findet.
Ted kam zum Sofa zurück und setzte sich wieder zu ihr. Mary sah ihn an und versuchte sich vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein mußte, als er vom Priesterseminar weg zur Armee gegangen war und nach seiner Rückkehr aus einem schrecklichen Krieg alle seine Ideale zerstört gesehen hatte.
»Du liebst Gott wirklich, nicht wahr, Daddy?«
»Sagen wir, ich bewundere ihn.«
Sie sprachen noch eine Weile über Christsein, und Mary gestand, daß sie bis zu diesem Abend ihre Mutter für die bessere Katholikin gehalten hatte. Ted antwortete nur mit einem seltsamen Lächeln.
Dann sagte er: » Es ist spät, Kätzchen, und wir müssen morgen früh ins Labor.«
Mary drückte ihren Kopf an seine Schulter und sagt: »Ich habe Angst vor morgen, Daddy ...«
19
Die Röntgenassistentin half ihr freundlich lächelnd auf den kalten Stahltisch. Mary klapperte mit den Zähnen, aber sie wußte, daß es nicht an der Temperatur des Raums lag. Ihr war kalt vor Nervosität, nein, schlimmer noch, vor Angst. Sie schloß die Augen, um den grässlichen Röntgenapparat nicht sehen zu müssen, und bemühte sich, an etwas anderes zu denken.
Als sie vor einer Stunde mit ihren Eltern aus dem Haus gegangen war, hatte sie auf der Treppe ein Päckchen gefunden, das eine handgehäkelte Babygarnitur in Rosa - Mützchen, Jäckchen und winzige Schuhe - enthielt. Und obenauf lag eine Karte von Germaine.
»Mary, es tut mir leid. Bitte sei mir nicht böse. Ich hab dich lieb.«
Sie war ins Haus zurückgelaufen, während ihr Vater den Wagen aus der Garage fuhr, und hatte bei den Masseys angerufen. Germaine war schon auf dem Weg in die Schule gewesen, aber Mary hatte mit ihrer Mutter gesprochen und sie gebeten, Germaine auszurichten, daß sie am Nachmittag noch einmal anrufen würde.
Ein Parfumhauch wehte Mary in die Nase, als die Röntgenassistentin sich über sie beugte, um die Maschine einzustellen.
»Bitte liegen Sie jetzt ganz still.«
»Es ist so unbequem.«
»ich weiß.«
Und der Rücken tut mir weh.«
»Nur einen Moment. Es dauert wirklich nicht lange.« Die junge Frau trat hinter einen Schutzschirm. »Halten Sie jetzt bitte den Atem an und bewegen Sie sich nicht.«
Die Maschine knackte, summte, knackte noch einmal, dann trat die junge Frau wieder zu Mary und tauschte die Filmkassetten aus.
»Noch eine von vorn, dann zwei von der Seite«, sagte sie. »Können Sie ein kleines Stück nach rechts rücken?«
Der Papierkittel klaffte hinten auseinander, als Mary sich bewegte, und sie fühlte das eisige Metall an ihrem nackten Rücken.
Die Assistentin ging wieder hinter den Schirm. »Bitte absolut stillhalten jetzt«, sagte sie, und die Maschine fing wieder an, zu knacken und zu summen.
»Okay, jetzt bitte auf die linke Seite. Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Als Mary einige Minuten später aus der Umkleidekabine kam, standen bereits ihre Eltern da.
»Wir fahren gleich hinauf in Dr. Wades Praxis«, sagte Ted, und Mary sah, daß sein Gesicht aschfahl war.
Es würde nicht leicht werden. Es würde vielleicht sogar der schwierigste Moment im Lauf seiner langjährigen ärztlichen Praxis werden. So viel hing vom Befund dieser Aufnahmen ab - nicht zuletzt der Artikel, der zu Hause auf seinem Schreibtisch lag und dem nur noch das letzte Kapitel fehlte. Eine Stunde der Entscheidung. Für alle. Pater Crispin wartete in seinem Haus auf den Befund. Wenn das Ungeborene anenzephalisch war, würde Jonas dort anrufen müssen. Aber was, wenn ihm nur die Arme oder die Beine fehlten? Was, wenn die Missbildung nicht solcher Art war, daß sie drastische Maßnahmen rechtfertigte? Wie sollte er Mary auf eine solche Möglichkeit vorbereiten?
Als die Sprechstundenhilfe die McFarlands in sein Sprechzimmer führte, sah er die angstvolle Besorgnis in ihren Gesichtern, und sie taten ihm
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