BitterSueß
heutige Arbeitstag war, obwohl ich den Feierabend kaum erwarten konnte, sagenhaft gut, wenngleich hammerhart, wie meistens, denn für eine einzelne Sekretärin ist hier viel zu viel zu tun. Ich empfand mich als sehr lebendig. Voll erwischt vom WorkaholicVirus. Führte das erste Mal Protokoll beim so genannten Jour Fixe, der wichtig und konspirativ ist. Scharf aufpassen war angesagt, auf des Chefs knappe Zeichen achten.
Danach eine kleine Pause.
Als Herr Wild neben mir stand, um mir eine Frage zu beantworten, sah ich seine schönen langbewimperten, grünblauen Augen, und ich schmolz dahin. Sein goldblondes Haar fällt ihm jungenhaft in die Stirn – er hat einen geschmeidigen Körper, ist immer superkorrekt und trotzdem lässig gekleidet, wie schafft er das nur mit Anzug und Krawatte, eine Haltung wie ein Tänzer. Der tanzende Herr Wild oder ACW – er ist Anfang 40, schätze ich, und spielt regelmäßig Squash, um fit zu bleiben für den stressigen Arbeitsalltag.
Alle hier sind arbeitssüchtig – und stolz darauf. Ein Subchef – kam noch mit dem Wunsch nach 17 Folien um halb sechs. Bis wann er sie bräuchte? »Morgen 8.00 Uhr.« Ich fuhr in den 2. Stock, wo’s leer war und ich nicht in Gefahr geraten konnte, warten zu müssen. Morgen früh wäre das der Wahnsinnsstress, selbst wenn ich früh genug ankäme, also halb acht.
Auf dem Rückweg war ich trotz der späten Stunde nicht allein im Lift – ein dunkelhäutiger Anzugträger verschlang mich mit seinen holunderbeerschwarzen Augen, was mir nicht unangenehm war … ja, es schmeichelte mir, mehr aber auch nicht, und als ich trotzdem flüchtig darüber nachdachte wie es wäre, mit diesem Fremden eine Nacht zu verbringen, sagte sogleich eine Stimme in mir: »Es wäre auch wieder unbefriedigend.«
Die Spielverderberstimme, die leider bis jetzt immer recht behalten hatte. Nur ganz flüchtig zog es mir durch den Sinn, ob es womöglich anders wäre, mit einem exotischen Mann wie diesem Schwarzen zu schlafen, und in meinem Hang zur political correctness fragte ich mich am Rande auch sogleich, ob das etwa eine rassistische Einstellung war.
Verdammt, wo sollte das hinführen, wenn das so weiterging? So konnte das ja nichts werden, wenn ich nicht mit den Männern vögelte, mit denen ich zusammen war, sondern ausschließlich feucht und geil wurde durch herbeiphantasierte Männer, mit denen ich nicht zusammen war! Hatte ich bislang nur einfach noch nicht »den Richtigen« getroffen? Verbaute ich mir selbst den Weg? Zwang mich mein Unterbewusstsein, stets »den Falschen« zu wählen? Und wenn das so war – wieso, in Dreiteufelsnamen???
1. November 2002
Hey, ich muss einfach ein bisschen Geduld mit mir haben. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut – es ist zwar keine leichte, aber bestimmt eine lohnende Aufgabe, das Labyrinth meiner sexuellen Identität zu durchwandern – bis zum in sinnlichen Farben leuchtenden Ziel.
Immer hatte ich eigentlich gedacht, dass mehr hinter dem Ganzen stecken musste. Schließlich drehte sich die gesamte Welt doch um Sex, und mir kam es so vor, als würde ich mich selbst um das Hauptvergnügen betrügen. Und zwar andauernd, mit schöner Regelmäßigkeit.
An dieser Stelle – unvermeidlich, das machen alle Biographen so – ist es mal fällig, ein paar Info-Brocken über meine Kindheit fallen zu lassen wie Granatapfelkerne. Ich bin in einer biederen und ziemlich verklemmten Familie aufgewachsen. Das Thema Sex kam bei uns praktisch nicht vor, und nie habe ich meine Mutter oder meinen Vater nackt gesehen. Es lag wohl daran, dass sie beide streng katholisch erzogen worden waren … als Eltern verschonten sie zwar meinen Bruder und mich mit allzu rigorosen Erziehungsmethoden und zwangen uns auch nicht in ein Religionskorsett, aber mit Erotik und so schienen sie einfach nichts anfangen zu können. Das wurde schamhaft ausgeblendet; folgerichtig waren mein Bruder Henry und ich beide Spätzünder, und selbst jetzt noch, mit Mitte beziehungsweise Anfang 30 gab es eine ganze Menge, was wir noch nie erlebt hatten. Mein Bruder heiratete einfach die erste Frau, die sich seiner annahm und mit ihrer frechen, direkten Art seine Verklemmtheit löste – hey, sie hatte einfach den richtigen Schraubenschlüssel oder die passende Flachzange … der Vergleich würde dem technisch begabten Henry bestimmt gefallen.
Und bei mir … naja …
Im »Weibernest« gestern war’s anfangs unangenehm. Manchmal frage ich mich, weshalb ich da überhaupt noch hingehe
Weitere Kostenlose Bücher