Bittersüße Heimat.
Fenstern beobachtet. Nergis möchte die schmalen Gassen so schnell wie möglich wieder verlassen. Eine verschleierte Frau in Plastiklatschen und mit einem Kind auf dem Rücken drückt sich an uns vorbei und verschwindet in einer Kellertür.
Ich frage Nergis, wie sie das erträgt, dieses Elend, warum sorge sich denn niemand um diese Frauen und Kinder, die wie verschrecktes Wild hinter Türen und Fenstern sitzen. Sie sieht mich verwundert an und fragt, warum mich das interessiere. Die Frau, die eben an uns vorbeiging, hätte mir doch nichts getan. So weit geht die Fürsorge für andere in einer kontrollierten Gemeinschaft wie dieser offensichtlich dann doch nicht. Nächstenliebe ist auf Verwandte und Bekannte begrenzt, auf Brüder und Schwestern im Geiste, von Ausnahmen abgesehen. Dass Frauen hier ausgegrenzt werden, das ist ihr Schicksal.
Wir fahren zurück in die Firma, zum Tee. Die Mitarbeiter des kleinen Unternehmens wechseln oft, denn Heirat und Familienangelegenheiten sind wichtiger als Job und Karriere. »Die häufigsten Probleme der Mitarbeiter drehen sich nicht um Arbeit, Ausbildung, Gesundheit oder Gehalt, sondern ums Heiraten«, sagt Nergis. »Entweder wollen sie Urlaub, um zu einer Hochzeit zu fahren, oder sie heiraten selbst.« Schon ganz junge Männer kämen zu ihr, um ihr mitzuteilen, dass sie in diesem Jahr heiraten und dafür zwei Wochen Urlaub im Juli brauchen würden. Wir sind schon auf der Suche, sagen sie, was heißt: Die Familie ist auf der Suche nach einer Braut.
Wer finanziell bessergestellt ist, heiratet ein Mädchen aus der Umgebung. Die ärmeren Familien sparen auf eine Braut aus dem Osten der Türkei. Die Frauen von dort sind billiger und gelten als weniger anspruchsvoll. Unverheiratet ist in ihrer Firma kaum jemand. Nur eben die Direktorin. Und das weiß jeder. Dass Nergis nicht verheiratet ist, halten ihre Familie, ihre Mitarbeiter für einen Fluch. Man würde ihr gern helfen, einen Partner zu finden, aber Nergis will sich nicht helfen lassen. Und das missfällt, denn es widerspricht dem gesellschaftlichen Bild von gottgegebener Sitte und Anstand. Heirat – ja oder nein, diese Frage stellt sich in der muslimischen Gesellschaft nicht. Die Ehe gilt als einzig angemessene Lebensform. Sie ist die natürliche Bestimmung eines gottgefälligen Lebens. Und deshalb wird Nergis argwöhnisch beobachtet. Sie könnte ja ein (schlechtes) Beispiel für andere sein.
»Im Prinzip«, sagt sie, »hat der Junge, der den Tee bringt, mehr Macht über mein Leben als ich selbst. Wenn ich den Leuten hier Schande machen würde, indem ich mich beispielsweise mit einem Mann träfe, würden sie mich, ohne zu zögern, davonjagen – selbst wenn es sie den Job und die Firma die Existenz kosten würde. Denn die eigentliche Berufung der Männer in dieser Welt ist die Kontrolle der Frau. Ich bin hier nur Direktorin, weil ich keine Frau bin. Ich lebe hier als geschlechtsloses Wesen. Das weiß ich«, sagt sie, »das ist der Preis meiner Freiheit.«
Reich ist sie bisher nicht geworden, obwohl sie sehr gut verdient und das Leben hier billig ist. Die Österreicher beherzigen das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Aber sie hat Eltern, die krank sind und deren Arztrechnungen bezahlt werden müssen. Und sie hat eine Schwester, deren Studium sie finanziert. Auch für Nergis gilt: Die Familie ist alles, was du hast und was du bist, selbst als Direktorin und erwachsene Frau. Selbstverantwortlich tun und lassen, was man will, würde mit sozialer Ächtung bestraft werden. Nergis genießt mehr Freiheit als die meisten anderen Frauen, aber es ist die Freiheit des Vogels, im Käfig zu singen.
An den Wochenenden in Ankara ist Nergis wieder Tochter. Sie passt bei ihren Eltern auf das Baby der älteren Schwester auf – weil sie ja nichts zu tun hat. Wenn sie einkaufen oder essen gehen will, raunzt ihr Vater hinter ihr her: »Du kommst ja ohnehin nur her, um dich zu amüsieren.« Er leidet darunter, dass sie nicht verheiratet ist und bereits als kartalos , als sitzengebliebenes »Suppenhuhn«, gilt. Das setzt ihm, dem Oberhaupt der Familie, zu. Und Nergis’ Mutter kann es kaum ertragen, wenn die Tochter bei ihnen weder Fleisch noch Tomaten und Zwiebeln isst, sogar Baklava verschmäht und sich stattdessen von Tee und Zwieback ernährt. »Nicht zu heiraten und nicht zu essen – das sind die Dinge, mit denen man seine Eltern bei uns quälen kann«, sagt Nergis, lacht und trinkt den Tee, den der Junge gebracht
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