Bittersüße Heimat.
Sie ist hier Direktorin, genießt Respekt – aber nicht als Frau. Denn Nergis arbeitet dort, wo Frauen ihren Mann mit »Effendi«, »mein Herr«, anreden und dabei zu Boden schauen.
Alle achten darauf, was sie tut
Auf Nergis hören fünf Frauen in der Verwaltung, fünf Betriebsingenieure und 35 Männer in der Produktion. Sie leitet das Werk, organisiert Arbeitsabläufe, überwacht Qualität, Kosten und Termine. Sie verdient gut, hat einen Dienstwagen und eine eigene Wohnung. Nein, das stimmt nicht ganz: Sie hatte eine eigene Wohnung, denn die hat sie inzwischen aufgegeben. »Ich hatte große Probleme bei der Wohnungssuche«, erzählt sie. »Als unverheiratete und alleinstehende Frau ist es fast unmöglich, eine Wohnung zu mieten.« Eine türkische Frau in ihrem Alter ist normalerweise verheiratet oder lebt bei ihrer Familie. Ihr Single-Dasein, meint Nergis, sei einfach eine Provokation. Besonders für die Nachbarn. Den Mietvertrag musste schließlich ihr Vater unterschreiben und der Betrieb für sie bürgen. Da sie jedes Wochenende nach Hause fuhr, nach Ankara zu ihren Eltern, konnte sie ihre schöne Wohnung kaum nutzen. Und so packte sie die Sache pragmatisch an, ersparte sich die Mietzahlungen und Gerede der Nachbarn und zog in die eigentlich für auswärtige Monteure oder Besucher gedachte Gästewohnung auf dem Fabrikgelände.
Afyon ist eine westanatolische Provinzstadt mit 100.000 Einwohnern, etwa vier Autostunden von Ankara wie auch von Istanbul entfernt, eine Stadt mit Geschichte. Sie wurde am Fuße eines schroffen, mit schwarzem Trachyt überzogenen Felsens errichtet, auf dessen Spitze eine Zitadelle aus der Zeit der Hethiter steht. Von hier aus wagte Atatürk im Bürgerkrieg den entscheidenden Vorstoß gegen die Griechen, die er 1922 bei Smyrna, heute Izmir, ins Meer jagte. Afyon heißt »schwarzes Opiumschloss«, riesige Mohnfelder finden sich hier, auf denen Opium für medizinische Zwecke gewonnen wird, ein modernes Hotel mit einer Therme am Rande der Stadt, ein Bahnhof an der Strecke, die von Istanbul nach Bagdad führte und heute irgendwo im Osten endet.
Die österreichischen Manager haben die junge Frau zur Chefin gemacht, weil sie die Einzige war, die über die nötigen Fähigkeiten und Sprachkenntnisse verfügte und Flexibilität mitbrachte. Für ihre Arbeiter ist sie der Boss. Was sie sagt, ist Gesetz. Sie haben Respekt vor ihr, denn sie weiß, wovon sie spricht. Respekt hat man in dieser Gesellschaft vor dem Alter oder vor dem Amt, nicht aber vor Frauen. Respekt ist ein Synonym für Gehorsam.
Nergis sieht gut aus, trägt ein ausgesucht schönes Kostüm, über das sie einen weißen Kittel wirft, wenn sie durch die Produktionshalle geht. Sie ist klein, zierlich und trinkt ständig Tee, den ein Junge auf Zuruf bringt und einschenkt. Jeder Betrieb hat so einen Teejungen, der auch sonstige Besorgungen erledigt. Eigentlich ist der Junge noch in einem Alter, in dem er zur Schule gehen müsste, aber niemand überprüft das.
»Der Tee gibt mir Wärme, dann spüre ich mich«, sagt Nergis und lächelt. Cay gibt es in der Türkei zu jeder Gelegenheit. In jedem Laden, jedem Restaurant, jedem Büro und bei jeder Familie steht ein Samowar oder eine Kanne mit kochendem Wasser auf dem Herd, obendrauf ein Kännchen mit einem Sud aus schwarzem Tee, der mit heißem Wasser verdünnt in kleinen Gläsern mit ein oder zwei Würfeln Zucker gereicht wird. Anders als türkischer Mocca, der speziellen Anlässen wie der Brautwerbung vorbehalten ist, wird Tee überall und jederzeit getrunken.
Nergis liebt ihre Arbeit, ihre Verantwortung, ihre Freiheit. Aber einmal im Jahr muss sie all das hinter sich lassen. Dann fährt sie ins Ausland, im letzten Jahr war sie für zehn Tage in China. Allein. Auch von Afyon aus fährt sie manchmal für ein Wochenende allein ans Meer. Im Betrieb erzählt sie dann, sie fahre zu ihren Eltern; ihren Eltern sagt sie, sie müsse arbeiten, denn auch in deren Augen ist es unschicklich, wenn eine Frau allein verreist.
Ganz ohne Bitternis, eher amüsiert, erzählt sie von ihrem Leben in der türkischen Provinz. »Ich kann nicht mit einem fremden Mann ausgehen oder Besuch von einem Mann erhalten. Die Direktorin kennt jeder. Und alle achten darauf, was sie tut. Nicht weil sie die Direktorin, sondern weil sie eine Frau ist.«
Die Familie ist das, was du bist
In der türkisch-muslimischen Gesellschaft, meint Nergis, seien Mann wie Frau selten allein. Das Leben spiele sich im Kollektiv ab, das Ideal
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