Bittersüße Heimat.
Unterhalt von Moscheen. Sogar das Militär, der selbst ernannte Hüter der Säkularität, hat die Trennung von Staat und Religion immer wieder hintertrieben. Dass eine Verfassungskommission unwidersprochen festgestellt hat, dass Türke nur sein kann, wer auch Muslim ist, unterstreicht die unauflösliche Verbindung von Staat und Islam.
»Denn die Ordnung der Welt ist gottgewollt«, schreibt der Islamwissenschaftler Peter Heine, »Al-Islam din wa daula, Islam ist Religion und staatliche Macht, ist einer der Kernsätze des islamischen Staatsverständnisses.« 109
› Hinweis Dass ohne den Bezug auf den Propheten und den Koran regiert werden könnte, ist den Muslimen immer fremd gewesen. Siyasal , Politik, dieser Begriff galt lange als eine Sache von Ungläubigen. Wenn Erdogan die Differenzen religiös begründet sieht – als Gegensatz zwischen einem »muslimischen Land« und den »christlichen« europäischen Ländern –, dann reiht er sich ganz in die Tradition der Gotteskrieger ein, die die Welt in gläubige Muslime und gavur , Ungläubige, einteilen.
Solange der Islam nicht entstaatlicht wird, solange nicht allen – den orthodoxen, katholischen, evangelischen Konfessionen des Christentums und anderen Glaubensrichtungen – Religionsfreiheit gewährt wird, der Staat sich nicht aus dem Bau von Moscheen, dem Unterhalt von Koranschulen zurückzieht und die Diyanet, das Amt für religiöse Angelegenheiten, entweder auflöst, privatisiert oder in eine Stiftung umwandelt, scheint ein Beitritt der Türkei in die EU nicht möglich. Auch wenn »Säkularität« oder »Laizismus« in den Kopenhagener Kriterien nicht ausdrücklich benannt werden – weil sich auch die Mitglieder der Europäischen Union darüber nicht einigen konnten –, so ist doch für alle bisherigen Mitglieder der Union die Trennung von Staat und Religion ein selbstverständlicher Bestandteil ihres demokratischen,rechtsstaatlichen Gemeinwesens. Religion ist Teil unserer Freiheit, sie steht nicht über dem Recht.
Demokratie ohne Demokraten
Die europäischen Gesellschaften sind säkulare Gemeinwesen, in denen der Glaube und seine Ausübung geschützt sind, den Menschen aber keine verbindlichen Vorschriften mehr durch die Religion gemacht werden. Unsere Werte und Normen verdanken sich in wesentlichen Bestandteilen dem Christentum und dem Humanismus der Aufklärung. Beide haben, auf unterschiedliche Weise, zur Befreiung des Einzelnen von jedweder Vormundschaft beigetragen, uns beigebracht, die unantastbare Würde des Menschen zu achten, Männer und Frauen als gleichberechtigt anzuerkennen und die Grenzen unserer individuellen Freiheit dort zu sehen, wo sie die Freiheit eines anderen verletzt. Die Rechte des Individuums stehen im Zentrum unserer Verfassung. Durch Rechtsstaatlichkeit werden sie garantiert, durch Gesetze »von außen« geschützt, über »internalisierte« Werte haben wir sie uns als moralische Orientierung »zu eigen« gemacht. Wir wissen – auch wenn viele es nicht immer wahrhaben wollen –, dass jeder für sein Tun verantwortlich ist.
Der islamischen Rechtsauffassung ist das eigenverantwortliche Individuum fremd. Es ist immer einer Gruppe, einer Gemeinschaft untergeordnet – dem Vater, der Umma, dem Staat –, und dahinter haben die Rechte des Einzelnen zurückzustehen. Die türkische Journalistin Ece Temelkuran nennt das »Korporatokratie«, die Herrschaft der Gruppen, der Körperschaften, in der die Demokratie immer nur so weit gewährt wird, wie das von oben definierte Gemeininteresse gewahrt bleibt. Was Freiheit ist, definiert die Gruppe. Es ist eine »Demokratie« ohne Demokraten.
Die türkische Verfassung gewährt dem Einzelnen zwar Grundrechte, schränkt diese aber immer wieder ein – nicht nur das Recht auf Meinungsfreiheit. »Von den Grundrechten und –freiheiten dieser Verfassung darf keines gebraucht werden, um Aktivitäten mit dem Ziel zu entfalten, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zu zerstören«, heißt es in Artikel 14 der Verfassung der Türkei. 110
› Hinweis Die »Einheit des Staatsvolkes« – anders gesagt: das »Türkentum« – aber verdankt sich einer dem Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches von oben aufgezwungenen Zwangstürkisierung. Bis heute wird dieses Verfassungsgebot immer wieder gegen Minderheiten – Aleviten, Kurden, Armenier – eingesetzt. In den europäischen Gesellschaften, von denen viele mit starken Minderheiten durchmischt sind, gilt die Anerkennung der Vielfalt,
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