Bittersüße Heimat.
Bruttosozialprodukts erwirtschaften. Dieses Netzwerk, das 1990 geschaffen wurde, um der kemalistischen Vorherrschaft zum Beispiel bei der Vergabe von Staatsaufträgen Paroli zu bieten, ist inzwischen zur einflussreichen Organisation der neuen Elite geworden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Staatsaufträge nur vergeben werden, wenn die »Voraussetzungen« stimmen. Wer Aufträge bekommen will, ist besser in der »richtigen« Partei, hat besser die »richtige« Zeitung abonniert und weiß deutlich zu machen, dass die Religion in seinem Unternehmen ihren Platz hat. Als ich einem AKP – Politiker diese Vetternwirtschaft vorhielt, lächelte er nur und meinte, dass es doch wohl nur gerecht sei, wenn nach den langen Jahren der kemalistischen Vorherrschaft nun endlich auch einmal die »Brüder und Schwestern« ihren Teil vom Kuchen abbekämen. Zumindest für die »Schwestern« dürfte das allerdings kaum gelten.
Bettvorleger
Das Knüpfen von Teppichen von Hand wie das Tragen von Lasten ist traditionell eine Sache der Frauen auf dem Lande gewesen. Manch anatolischer Tiger und Fasan wurde, in den Paradiesgartenmotiven verarbeitet, zu Wandschmuck oder Bettvorleger. Inzwischen werden auch in Kayseri Teppiche von Maschinen geknüpft. Diese Webstühle werden nicht von Frauen bedient. Das Wirtschaftswunder der Provinz Kayseri hat nur den Männern Beschäftigung gebracht. 74 Prozent der Männer üben eine Erwerbstätigkeit aus, aber nur 37 Prozent der Frauen, meistens in der Landwirtschaft, wo keine berufliche Ausbildung erforderlich ist und schlecht gezahlt wird – oder die Frauen als mithelfende Familienangehörige überhaupt keinen Lohn bekommen. In Führungspositionen waren in der Region Kayseri bei 661.066 Beschäftigten im Jahr 2000 nur 176 Frauen vertreten. 95
› Hinweis Die Beschäftigungsrate von Frauen in der Türkei liegt mit insgesamt 25,5 Prozent bei einem Wert, den die US A in den 1950er Jahren erreicht hatten, zudem ist sie seit Regierungsantritt der AK P auffallend rückläufig. 1990 lag sie noch bei 34,1 Prozent. 96
› Hinweis Zum Vergleich: 2005 waren in den Ländern der Europäischen Union 61 Prozent der Frauen in Arbeit. 44,4 Prozent der jungen türkischen Frauen zwischen 15 und 19 gehen weder zur Schule, noch haben sie einen Beruf.Die Analphabetenrate beträgt bei Frauen 24 Prozent. 97
› Hinweis Nach Schätzungen der Unesco wird über 600.000 Mädchen in der Türkei der Schulbesuch verweigert, und etwa 20 Prozent der Sechs- bis Zwölfjährigen erscheinen nicht zum Unterricht.
Jedes dritte Mädchen unter 18 Jahren wird verheiratet, berichtete die Abgeordnete der CH P Ayse Gülsün Bilehan in einer Debatte zum Internationalen Frauentag 2007 im türkischen Parlament. In den Augen vieler türkischer Männer wirft die Beschäftigung einer Frau außerhalb des Hauses ein schlechtes Licht auf ihren Ehemann – der offenbar nicht in der Lage ist, die Familie zu ernähren.
Am 7. April 2008 ließ der Verband türkischer Industrieller und Unternehmer in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« deutsche Unternehmer und türkischstämmige Politikerinnen mit einer Hochglanz-Beilage für einen EU-Beitritt der Türkei werben. Unter dem Slogan »Die Richtung stimmt« sitzen türkischstämmige Abgeordnete von der CDU , der SP D und den Grünen in einem schnittigen Motorboot und bescheinigen der Türkei eine rasante Entwicklung. Die Probleme der Mädchen sind diesen Damen fremd, und für die Sorgen türkischer Frauen in Kayseri, in Afyon oder Kaiserslautern ist in dem Boot der Lobbyistinnen türkischer Männerinteressen so wenig Platz wie auf dem Diwan der modernen Paschas aus Kayseri, die ihre Freiheit und ihr Glück beim Betrachten ihrer Kontoauszüge finden.
Der Preis der Freiheit
Die türkische Industrie- und Handelskammer wirbt in deutschen Zeitungen mit der großen Rolle der Frauen in der türkischen Wirtschaft: »Starke Frauen sind ein Argument.« 98
› Hinweis »Es ist Zeit, die Klischees über die Türkei zu überdenken und sich ein realistisches Bild des Landes zu machen«, heißt es dort. Ich bin der Aufforderung gefolgt.
In der anatolischen Stadt Afyon habe ich mich mit Nergis getroffen, einer Frau, die es geschafft hat. Die 32-Jährige hat Chemie studiert und leitet eine Firma mit 45 Mitarbeitern. Das Unternehmen produziert Kunststoffrohre für Kläranlagen und Wasserleitungen. Für die österreichische Firmengruppe, zu der das Unternehmen gehört, war sie »die Beste«, deshalb bekam sie den Job.
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