Bittersüße Heimat.
mich frage, wie sie so »verschlossen« überhaupt den Weg zur Haltestelle haben finden können, entdecke ich schließlich eine »nur« mit Türban und langem Mantel gekleidete Frau als ihre Begleiterin, die für die vier schwarzen Gespenster bezahlt, für sie redet.
Wir steigen gemeinsam in das Sammeltaxi, das bestimmte Routen fährt und in das man nach Bedarf einsteigen kann. Wir sitzen den schwarzen Gespenstern gegenüber, und ich versuche auszumachen, ob sich wirklich Frauen unter diesen schwarzen Gewölben verbergen. Auch alle anderen Fahrgäste starren die Frauen stumm an. Niemand wagt, etwas zu sagen. Als eins der Zelte kurz den Schleier hebt, erkenne ich darunter ein Baby. Die Frau versucht, das Kind in den Schlaf zu schaukeln.
Ich bin froh, endlich aussteigen zu können. Bevor es dunkel wird, will ich mir die alten Kirchen und Klöster anschauen. Die christlich geprägte Stadtarchitektur ist erkennbar, ein Marktplatz mit einer großen Kirche in der Mitte ist von Bürgerhäusern aus gelbem Kalkstein umrahmt, deren Balkone zum Marktplatz weisen. Gleich neben dem riesigen Kloster befindet sich eine medrese , eine Koranschule, in die gerade eine Gruppe von bärtigen Männern eilt, gekleidet wie muslimische Frömmler – mit langem Hemd und den wie immer zu kurzen Hosen. Wenig später sind auch draußen die auf Arabisch gesungenen Koransuren zu hören, laut vom Chor wiederholt.
»Palästina gehört uns«
Vor der medres e warten einige kleine Jungen auf die bärtigen Männer, um Geld zu erbetteln. Niemand sonst ist auf der Straße. Einer der Jungen erspäht mich, läuft auf mich zu und bietet mir an: »Teyze, Frau Tante, ich kann dir alles zeigen.« Er führt mich noch einmal überall herum und preist, was Allah an Wunderbarem geschaffen hat. Als sich unser Rundgang dem Ende nähert, kommt er zögerlich auf eine etwas heikle Angelegenheit zu sprechen: »Teyze, weißt du, wir feiern hier gerne Hochzeit.« Pause. »Und wenn Hochzeit ist, dann schießen wir gern in die Luft.« Pause. Und dann: »Ich habe auch so eine Pistole, mit der man in die Luft schießen kann. Nur leider habe ich keine Munition mehr.« Pause. Ein fragender Blick. »Wäre es wohl möglich, dass du mir ein wenig dazugibst, damit ich mich freuen kann?« So viel Argumentationskunst ist überzeugend. Ich gebe ihm eine Lira. Er bedankt sich, zieht unter dem Hemd seine Spielzeugpistole hervor und sagt: »Teyze, jetzt beschütze ich dich auch vor den gavur , den Ungläubigen.«
Schnell wird es dunkel. In der einzigen Einkaufsstraße des Viertels werden schon die Rollläden aus Stahl heruntergelassen. Männer eilen nach Hause, und ich bin froh, dass der kleine Junge mich begleitet. Vor einem Schmuckgeschäft, das noch geöffnet hat, trennen wir uns. Der Junge flitzt zum Kaufmann, um seine Munition zu erstehen; ich möchte mir noch den fein gearbeiteten Silberschmuck ansehen, für den die Stadt berühmt ist. Dem Silberschmied ist es offensichtlich unangenehm, eine fremde Frau bedienen zu müssen, er antwortet nur unwillig auf meine Fragen nach einzelnen Schmuckstücken und sieht mich nicht an.
Erst als er hört, dass ich aus Deutschland komme, wird er offener. Er sei Yezide, in der Stadt würden zwar noch ein paar Christen leben, aber die meisten Einwohner seien sunnitisch. »Neuerdings gibt es hier auch Hamas-Anhänger, die über die syrische Grenze ins Land kommen. Das Zentrum ist die Medrese oben am Markt.« Er glaubt, dass dort Terroristen ausgebildet werden. Aber auch ihre Frauen seien aktiv, man erkenne sie an ihren schwarzen Tschadors. Ich verabschiede mich von ihm, da ich noch schnell für den Abend etwas Obst kaufen will. Hinter dem bärtigen Kassierer des kleinen Ladens neben unserem Hotel sehe ich ein Plakat mit dem Slogan: »Palästina gehört uns«, darüber jubelnde bärtige Männer mit Maschinenpistolen.
Wiegenhochzeit und Winzerinnen
Peter und ich entscheiden uns, die sechzig Kilometer von Midyat nach Mardin wieder mit dem Dolmus zu fahren – durch weites Land, in dem jetzt im Oktober die Baumwollernte im vollen Gange ist. Vor uns Lastwagen mit hochgetürmten Ladungen weißer Samenfäden, auf den Feldern endlose Reihen von Frauen, die, einen Sack hinter sich herziehend, Baumwolle pflücken. Etwa eine Million Tonnen jährlich produziert die Türkei, und das meiste davon wird von Frauenhand geerntet.
Mitten auf der Strecke steht plötzlich ein Militärposten. Wir sollen aussteigen, Pässe und Gepäck werden kontrolliert. Alle haben
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