Bittersüße Heimat.
einen Ausweis dabei – zum Glück. Anderntags lese ich in der Zeitung unter »Vermischtes«, dass eine Militärkontrolle einen Bus angehalten hat. Als sich zwei junge Männer unter den Fahrgästen nicht ausweisen konnten, verlangte man von ihnen, die türkische Nationalhymne zu singen oder mit auf die Wache zu kommen, bis ihre Identität geklärt sei. Laut Bericht haben die Männer es vorgezogen zu singen.
Je näher wir Mardin kommen, desto mehr verändert sich die Landschaft. Die Baumwollfelder weichen Olivenhainen. An denHängen sieht man noch die alten Terrassen, die heute aber nicht mehr genutzt werden. Dann taucht Mardin in der leicht hügeligen Landschaft wie ein riesiger besiedelter Felskegel auf. Die Stadt ist steil an den Felsen gebaut, der sich 500 Meter über der Ebene erhebt, ihre Geschichte soll bis zu den Zeiten der Sintflut zurückreichen. Man spürt die Aura des Ortes. Oben auf dem Gipfel des Felsens thront eine Zitadelle, in der die amerikanische Armee eine Radarstation errichtet hat. Der Berg in der Nähe zur Grenze ist ein strategisch günstiger Platz, um von hier aus Syrien bis in den Irak zu beobachten. Vom Fuß des Felskegels aus kann man die dicht an dicht stehenden malerischen alten Häuser mit ihren Terrassen, kleinen Gärten und den Torbögen erkennen, die wie ein von Paul Klee gemalter Orientgarten anmuten. Es ist die erste Stadt auf unserer Reise, deren alter Kern Zentrum geblieben ist.
Blick in die Wüste
Wir gehen auf Empfehlung in ein Butik-Hotel, das in einem alten Bürgerhaus eingerichtet wurde. Hier residierte im 19. Jahrhundert hinter hohen Sandsteinmauern eine süryanäische Kaufmannsfamilie. Von außen eher unscheinbar wirkend, öffnet sich im Innern ein Hof, in dem ein mit Mosaiken geschmückter Brunnen und ein zweistöckiges Gebäude stehen. Die halbrunden Fenster und Türen sind mit feinen, in Sandstein gearbeiteten Bordüren und Ornamenten verziert wie auch mit kunstvollen schmiedeeisernen Arbeiten versehen, die immer wieder das gleichschenklige Kreuz, das Symbol der Süryanäer, als Grundmotiv aufnehmen. Aber auch Tiere und Dämonen als steinerne Hausgeister weisen darauf hin, dass es sich hier um ein Gebäude eines nichtmuslimischen Bauherrn handelt.
Das Haus ist nach Süden hin geöffnet, und der Blick geht vom Balkon und aus jedem Fenster hinein in die syrische Wüste. Kein Baum, kein Strauch, kein Haus, kein Fluss oder See ist zu sehen, sondern nur der felsige Grund der Wüste. Wer sie im Sommer ohne Wasser durchqueren muss, wie die von den Jungtürken vertriebenen Armenier im Jahr 1915, der wird, noch ehe Mardin am Horizont verblasst, verdurstet sein. Damals hatte die Stadt 50.000 Einwohner, etwa die Hälfte davon Muslime. Die anderen warensyrische, aramäische, armenische Christen verschiedener orthodoxer Gemeinden. Heute leben hier nach den diversen Umsiedlungsprogrammen des türkischen Staates hauptsächlich Kurden und einige zurückgekehrte Christen.
In Mardin hält der Dolmus zuerst im neuen Teil der Stadt. Der alte Stadtkern war nach den Umsiedlungen in den ersten Jahrzehnten der Republik zunächst dem Verfall überlassen worden, die Türken bauten sich eine neue Stadt am Rande des Berges.
Nachdem vieles unwiederbringlich zerstört ist, nimmt jetzt allmählich in Teilen der Bevölkerung die Wertschätzung alter Häuser wieder zu. Alte medres e werden restauriert, der Großunternehmer Sabanci lässt von seiner Stiftung eine der Koranschulen zum Museum umgestalten. Die alte Substanz von Mardin wird neu entdeckt, unser Hotel wurde mithilfe von EU-Geldern restauriert.
»Auch die Männer müssen befreit werden«
Mit Ülkü von der hiesigen Ka-mer-Einrichtung sind wir in einem von Frauen geführten Café an der Hauptstraße verabredet. Es ist Mittagszeit, wir sind die einzigen Gäste. Hinter dem Tresen putzt ein junger Mann Gläser. Die Frauen, sagt Ülkü, würden das Essen zubereiten und die Einkäufe erledigen. Aber ganz ohne männliche Hilfe würde die Arbeit hier nicht laufen.
Ülkü ist vor drei Jahren aus Ankara gekommen, um hier die Leitung der Organisation zu übernehmen. Die türkisch-islamische Gemeinschaft ist verschlossen, sagt sie, wenn Journalisten kommen und fragen, warum auf einmal so viel von Ehrenmorden in Mardin zu hören ist, antworte sie: Früher hat nur niemand darüber gesprochen, wir machen das jetzt öffentlich. Bisher haben die Frauen immer nur gelernt, dass sie Dienerinnen ihrer Familien sind, dass ihre Familien ein Recht hätten,
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