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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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und Drogenprobleme. Auch die Polygamie, die Vielehe, wird von den Männern ganz selbstverständlich praktiziert.
    »Ich wohne in einem sehr reichen Viertel«, erzählt eine der Frauen. »Über uns wohnt ein Mann mit mehreren Frauen. Jede Frau hat ihre eigene Wohnung. Die Familien verheiraten ihre Töchter gern an reiche Verwandte, selbst in eine Vielehe. Sie meinen, dem Mädchen damit etwas Gutes zu tun. Denn schließlich lebe es im Wohlstand. Solange der Mann zahlt, sei doch alles in Ordnung. Besonders wenn die Ehefrau keinen Sohn bekommt, dann schaffen die Familien eine zweite oder gar dritte Braut heran – bis eine darunter ist, die dem Mann mindestens drei Söhne gebärt.«
    Dass viele Frauen ihre Rettung eher darin sehen, nach Deutschland verheiratet zu werden, als an den Verhältnissen in ihrem Heimatort etwas zu ändern, sei auch ein Problem, meint eine andere: »Auch eine Cousine von mir ging als ›Importgelin‹, als ›Importbraut‹, nach Deutschland. Aber sie kam nach einem Jahr zurück. Sie war vom Regen in die Traufe gekommen, nur unter alten Leuten gewesen, die Sklavin der Familie ihres Mannes. Es passiert selten, dass eine Braut zurückkommt. Wir erfahren meist nichts mehr über die Frauen, die gegangen sind. Wir dachten immer, wir hier leben im Mittelalter – bis wir hörten, dass es mitten in Deutschland offensichtlich noch schlimmer für die Frauen zugehen kann.«
    »Ich kenne einen anderen Fall, wo ein wunderschönes Mädchen nach Deutschland verheiratet wurde. Dort musste sie in der Landwirtschaft arbeiten. Sie kam nach einem Jahr zurück. Ihr Mann hatte eine andere gekauft, gibt aber das verstoßene Mädchen nicht frei, sodass sie nicht wieder heiraten kann. Sie ist gerade mal zwanzig Jahre alt, aber ihr Leben ist ruiniert.«
    Jetzt gehen die Geschichten wild durcheinander, vor allem von den Versuchen, Arbeitsplätze für Frauen zu schaffen, ist die Rede. Die Provinz Gaziantep hat in den letzten Jahren vor allem in der Textilproduktion, aber auch in der Landwirtschaft durch große Bewässerungsprojekte einen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Viele Frauen sind Heimarbeiterinnen, weil sie ihre mahalles , ihre Stadtviertel, nicht verlassen dürfen. So knacken sie zum Beispiel zu Hause die Pistazien, die in der Provinz angebaut werden – aber diese Arbeit wird schlecht bezahlt. Die Ka-mer-Frauen wollen eine Flugblattaktion gegen diese Unterbezahlung starten. Aber das ist schwierig, und das regionale Fernsehen, über das sie die Frauen erreichen könnten, sperrt sich, über die Ka-mer-Arbeit zu berichten.
    Nach zwei Stunden Tee, Pistaziengebäck und Gesprächen schwirrt mir der Kopf. Die Frauen sind voller Tatendrang. Jede Gesellschaft könnte stolz auf diese Bürgerinnen sein. Aber sie werden, ganz besonders in dieser Stadt, in ihrem Engagement weder unterstützt noch erkennt man es an. Im Gegenteil: Jede Form von Bürgerengagement wird im Keim erstickt. Das macht mich, als ich sie verlasse, wütend und traurig.

Begegnung mit schwarzen Gespenstern
    Der Name der Stadt Midyat war mir bisher nur einmal aufgefallen, nämlich in einem Bericht über jugendliche Intensivtäter in Berlin. Viele der straffällig gewordenen Jugendlichen stammen aus kurdisch-arabischen Familien dieser kleinen Stadt. Midyat liegt auf halber Strecke zwischen Batman und Mardin im Südosten nahe der Grenze zu Syrien. Der Ort besteht aus zwei Teilen – der westliche wird überwiegend von sunnitischen Muslimen bewohnt, während der östliche, unschwer erkennbar an den Kirchen, christlich geprägt ist.
    »Berg der Knechte Gottes«, Tur-Abdin, nennt man die bis zu 1400 Meter hohe Kalkplateau-Landschaft östlich von Mardin. Hier entstanden seit dem vierten Jahrhundert n. Chr. bis zu den arabischen Eroberungen zahlreiche Klöster, es war ein Zentrum der süryanäischen Christen. Vier Bistümer und über 80 Klöster gab es hier im Mittelalter, die den Raubzügen der Kreuzritter zum Opfer fielen. Im Zuge der ethnischen Säuberungen durch die Jungtürken wurden die christlichen Minderheiten zwischen 1915 und 1922 vertrieben. Heute gibt es nur noch etwa 25.000 syrisch-orthodoxe Christen in der ganzen Türkei.
    Wir warten an einer Haltestelle auf den Kleinbus, der uns in den Ostteil der Stadt fahren soll. Eine Gruppe von vier Frauen im schwarzen Tschador steht bereits dort. Selbst vor den Augen haben sie ein schwarzes Gazetuch. Sie tragen schwarze Handschuhe, schwarze Schuhe, bei einer von ihnen blitzen Lackpumps hervor. Als ich

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