Bittersüße Heimat.
sie zu schlagen. Sie kennen ihre Rechte gar nicht. Gewalt ist für sie eine alltägliche Erfahrung, eine Selbstverständlichkeit, ihr Schicksal eben. »Wir haben erreicht, dass das keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Und dafür konnten wir auch Männer gewinnen.«
Helfen könne ihre Organisation aber nur bei akuten Notlagen. Die Mittel seien sehr begrenzt. »Wir machen im Grunde die Arbeit der Behörden, wollen aber bei ihnen, bei den Beamten desStaates, ein Problembewusstsein wecken, sie sensibilisieren. Deswegen arbeiten wir mit der Polizei, Staatsanwaltschaft, den Religionsbehörden, den Imamen, den Lehrern zusammen. Oft hören wir von einem kurz bevorstehenden Mord. Wenn die Polizei gleich zu erreichen ist, können wir wirkungsvoller eingreifen.«
Manche der bedrohten Frauen, erzählt sie, die zu ihnen kämen, wollten zur Familie zurück und sich mit ihr versöhnen. Da es in der sozialen Hierarchie immer noch einen gibt, der höher als das Familienoberhaupt steht, sei es der Bürgermeister, Landrat oder ein Abgeordneter, würde Ka-mer den zu Hilfe rufen, um mit den Familien zu verhandeln. Manchmal dauern solche Verhandlungen lange – je nach Schwere der »Sünde«, die das Mädchen auf sich geladen hat. Fälle, bei denen ein Mädchen eine Beziehung mit einem Mann hatte, sind relativ einfach, sofern es nicht bereits einem anderen versprochen war. »Meist erreichen wir, dass die beiden heiraten dürfen. Aber bei Unzucht oder Vergewaltigung ist es schwer, das Leben der Frauen tatsächlich zu retten. Wenn der Mordbefehl vom Familienrat aufrechterhalten wird, haben wir kaum eine Chance.« In solchen Fällen scheint auch die Polizei keine Hilfe zu sein, jedenfalls erwähnt sie das nicht.
Vor zwei Tagen kam eine Frau zu ihr, die von ihrem Mann seit Jahren geschlagen und gedemütigt wurde. Es hatte ständig Streit mit dem Ehemann gegeben, weil der ihr kein Geld gab, seine Frau und seine Kinder hungern ließ. Die Frau schämte sich so sehr, dass sie sich nicht einmal ihrer eigenen Familie anvertrauen mochte. »Wir haben einen Anwalt hinzugezogen, der ihr versichert hat, dass ihr Mann verpflichtet sei, ihr Geld zu geben. Und dass sie, ohne sich scheiden zu lassen, dagegen klagen könne. Sie war überrascht von dieser Information und wollte darüber nachdenken, wie sie weiter vorgeht. Das erleben wir ganz oft, dass die Frauen erst durch uns erfahren, dass auch sie Rechte haben.«
Ich frage, ob Ka-mer auch aktiv wird, wenn sie zum Beispiel von Kinderehen erfahren. »Nein«, antwortet Ülkü, »wir reagieren nur, wenn Zwang oder Gewalt vorliegt und wir zu Hilfe gerufen werden.« Kinderehen seien hier an der Tagesordnung: »Die Familien verheiraten ihre Kinder so jung wie möglich, um Gerede zu vermeiden. Da das Mädchen die Ehre der Familie beschmutzen könnte, wird es am besten noch vor der Pubertät verheiratet, dann ist die Familie des Mannes für das Mädchen verantwortlich. So schützen sich die Familien vor Ehrverlust und kommen nicht in die ›Verlegenheit‹, einen Ehrenmord vollstrecken zu müssen. Auch berdel wird hier ganz selbstverständlich praktiziert – das Mädchen als Blutopfer. Oder auch beschikkertmesi , die Wiegenhochzeit. Zwei Brüder versprechen einander: Wenn ich einen Sohn bekomme und du eine Tochter, sollen sie einander gehören. Wird das Versprechen später nicht eingehalten, ist das eine Ehrverletzung, und das Mädchen – fast immer trifft es das Mädchen – kann Opfer eines Ehrenmordbeschlusses vom Familienrat werden.«
So fremd ihr diese Welt auch sei, sagt Ülkü, so habe sie doch in den Gruppentherapien, die Ka-mer anbiete, um »das Frauenproblem als gesellschaftliches Problem zu begreifen«, erkennen müssen, dass selbst sie, eine Akademikerin und berufstätige Frau aus der Hauptstadt, nicht wirklich gleichberechtigt sei. »Die Männer sind Teil des Systems, auch sie müssen befreit werden.«
Während unseres Gesprächs telefoniert sie immer wieder mit der Gefängnisleitung des Ortes. Ka-mer möchte in den Gefängnissen Seifenwerkstätten einrichten lassen, damit die Insassen beschäftigt werden können. Ich frage sie, ob ich mich ihrem für morgen geplanten Besuch im Gefängnis anschließen dürfe. Sie verspricht, bei der Gefängnisleitung nachzufragen.
Zum Schluss zeigt sie uns die Seifenwerkstatt der Ka-mer-Frauen, leider treffen wir auch hier wieder nur zwei Männer an. Peter und ich rüsten uns mit mehreren Paketen schöner Seifen aus und machen uns dann auf den Weg zu der
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