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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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auf wissenschaftlichen Täuschungsmanövern basiert. Das Buch ist spannend; immer wenn ich mit einem der üblichen Klischees rechne, weiß Livaneli zu überraschen und den Geschichten seiner Figuren eine neue Wendung zu geben. Beeindruckend auch, wie er die Landschaften Anatoliens und die Stadt Istanbul beschreibt. Während sein Landsmann und Schriftstellerkollege Orhan Pamuk in seinen Erzählungen die Erinnerung an Istanbul, wie es einst gewesen ist, beschwört, fängt Livaneli die Gegenwart der Stadt ein, in die es immer mehr Menschen aus Anatolien zieht.
    Sonntags findet man diese Menschen zum Beispiel auf kleiner Wallfahrt nach Eyüp, dem heiligen Ort am Ende des Goldenen Horns, der Bucht im Herzen der Stadt.

Heilige Geschäfte
    »Ich muss heute nach Eyüp!«, verkündete meine Mutter eines Morgens beim Frühstück, als wir noch in Istanbul lebten. Ich war damals sechs Jahre alt. Meine Mutter hatte von ihrem Vater geträumt, den sie seit ihrem Weggang aus ihrem Dorf nicht mehr gesehen hatte. »Ich muss heute für ihn beten, Necla nehme ich mit!« Nachdem meine Mutter ihre Haare von Lockenwicklern befreit und ein dezentes Kostüm ausgesucht hatte, packte sie ein leichtes weißes tülbend , ein Kopftuch, in ihre Tasche, passend zu den Schuhen mit den Pfennigabsätzen. Auch ich durfte mein schönstes Kleid aus Organza anziehen und trug einen breiten Strohhut.
    Wir wohnten im asiatischen Teil von Istanbul, in Kadiköy. Der Weg auf die europäische Seite war Mitte der 1960er Jahre eine kleine Reise. Erst mit dem tramvay , der Straßenbahn, zum Hafen, dann mit der Fähre über den Bosporus nach Eminönü, dann mit einem Boot weiter das Goldene Horn entlang nach Eyüp.
    Eyüp ist ein Wallfahrtsort, dort befindet sich die älteste Moschee Istanbuls und das Mausoleum von Eyüp Ensari, der während der Belagerung der Stadt durch die Araber 672-679 als Bannerträger Mohammeds gefallen war. Sein Grab spielte beim Fall Konstantinopels 1453 eine wichtige Rolle. Der osmanische Sultan Mehmed II., der Eroberer der Stadt, ließ 77 Gottesmänner sieben Tage lang nach der letzten Ruhestätte von Ensari suchen, ihre Entdeckung war eine Art »spirituelle« Eroberung Konstantinopels. Über den Fundort wurde eine türbe , ein Grabturm, gebaut, daneben errichtete man eine Moschee, eine Koranschule, ein Hamam und einen Basar. Nur der letzte der 35 osmanischen Sultane, Mehmed V. Reshad, fand hier 1918 seine letzte Ruhe. Aber nicht sein Grab ist das Ziel der vielen Pilger, sondern das des »Bannerträgers des Propheten«, genannt Ebu Eyüp.
    In dem nach dem Verehrten benannten Ort angekommen, kaufte meine Mutter weiße Kerzen, legte das Kopftuch um, stellte sich zum Sarkophag im Mausoleum des Heiligen, zündete die Kerzen an und betete für ihren Vater und für ihre Familie. Nach dem Gebet kam das Tuch wieder in die Tasche, und wir gingen ins Café »Pierre Loti« Tee trinken, genossen unsere mitgebrachten Sandwiches und den Blick über das Goldene Horn.
    Vierzig Jahre später stehe ich wieder am Pier von Eminönü. Mit Freunden mieten wir ein Boot, das uns nach Eyüp bringen soll. Es ist ein kleines Motorboot, das auf den Wellen und unter den Brücken hindurchschaukelt und die Riesenmetropole in die Ferne rücken lässt. In Eyüp stehen rechts und links der kleinen Straßen Buden mit religiösen Devotionalien: grüne Fahnen, das blaue Auge Fatimas gegen den bösen Blick, Schmuckketten mit Koransuren. Viele Geschäfte bieten Kassetten und CDs mit religiösen Liedern sowie »fromme Kleider« an, aus den Lautsprechern erklingen religiöse Gesänge und Predigten bekannter Vorbeter. Die fast ausnahmslos bärtigen Verkäufer tragen die Tracht der Strenggläubigen, weite Hochwasserhosen, kragenlose Kaftanhemden, Käppi und Sandalen. Willkommen im siebten Jahrhundert!
    Es ist Sonntag, und viele Familien nutzen diesen Tag, um die heilige Stätte zu besuchen und zu beten. Die alte Moschee ist mit gläubigen Männern überfüllt. Frauen haben keinen Zutritt. Im Hof der Moschee, hinter einer provisorischen Absperrung, hocken etwa hundert verschleierte Frauen auf den Knien und beten. Sie haben ihre kleinen Gebetsteppiche mitgebracht, sitzen auf dem Boden oder auf Wellpappen. Der Imam ruft aus dem Lautsprecher: »Allah möchte, dass ihr für ihn betet, dass ihr eure Pflicht ihm gegenüber niemals vergesst …« Das Gedränge ist groß, Frauen verteilen als fromme Gaben an Passanten Würfelzucker, und Kinder füttern damit die Tauben. Nichts mehr ist

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