Bittersüße Heimat.
Mit den Menschen vom Dorf kamen auch ihre Traditionen und Sitten in die Stadt, denn die Dörfler »modernisierten« sich nicht dadurch, dass sie Städter wurden. Im Gegenteil. Die Gecekondus werden bewohnt von Dörflern ohne Land, Hirten ohne Herde, die heute zum riesigen Heer der Beschäftigungslosen oder Billigarbeiter zählen.
Dort, wo die Stadtviertel keine Namen haben, die Straßen erst asphaltiert werden und Strom erst verlegt wird, wenn die Häuser längst stehen, etwa anderthalb Autostunden vom Zentrum entfernt, besuche ich eine Familie. Wir treffen ihr Oberhaupt auf einem Parkplatz unter einer Brücke, dem einzigen markanten Punkt in einer Gegend, deren Straßen im Stadtplan gar nicht verzeichnet sind. Er ist ein strenggläubiger bärtiger Kurde, der, wie er sagt, »wegen einer Familiensache« nach Istanbul fliehen musste. Der Mittdreißiger arbeitet in einer Fabrik als Näher, sein Lohn beträgt weniger als 200 Euro im Monat. Nachdem er die Stelle bekommen hatte, heiratete er eine Cousine aus seinem Dorf, die ihm bereitsals Kleinkind versprochen worden war. Später kamen seine Brüder nach, heirateten ebenfalls. Um die Familienmitglieder unterzubringen, baute er zuerst eine Art Garage, die nach und nach erweitert und aufgestockt wurde. Heute wohnen etwa zwanzig Personen auf den drei Etagen. Wer Arbeit hat, liefert seinen Verdienst ab. Zum Schlafen werden Matten auf dem Teppich ausgerollt.
Während die Frauen in der Küche das Essen vorbereiten, stoßen im Laufe des Gesprächs immer mehr männliche Mitglieder der Familie zu uns und setzen sich in dem großen, nur mit einem Teppich ausgelegten Raum nebeneinander an die Wand, um ihrem Abi zuzuhören, der mir, der Abla, der großen Schwester aus Almanya, erklärt, wie die Türkei zur islamischen Republik werden kann. Die Frauen bleiben unsichtbar. Erst als ich mehrfach betone, dass ich doch so gern seine Töchter sehen würde, ruft er sie.
Beide Mädchen tragen das Kopftuch zum T-Shirt. Die Älteste ist 14 und wird in diesem Jahr die Schule beenden. Ich frage sie, was sie danach vorhabe. Schüchtern antwortet sie, ihre Lehrerin habe sie fürs Gymnasium vorgeschlagen. Ich schaue zu ihrem Vater hinüber: »Wird sie weiter zur Schule gehen?« Er lacht und sagt, auf der Koranschule lerne man alles für das Leben – »Allah weiß, was er für Pläne hat.«
Auf der Suche nach dem Glück
Irgendwo in Ostanatolien wird die junge Meryem von ihrer Familie in einem Stall gefangen gehalten. Ihr Onkel, der Chef des Clans, hat sie vergewaltigt. Jetzt soll sie sterben, damit die »Ehre« der Familie wiederhergestellt wird. Die Tat ausführen soll ihr Cousin, der vom Militär zurückgekehrte Cemal. Er zögert, er weiß nicht, wie er es anstellen soll. Er fährt mit der Cousine erst einmal los, Richtung Istanbul.
Diese Geschichte erzählt ein Roman von Zülfü Livaneli, einem berühmten türkischen Musiker, Autor und Politiker. Von 2002 bis 2007 war er Abgeordneter im türkischen Parlament, zunächst als Mitglied der CHP , ab 2005, nachdem er als Protest gegen antidemokratische Tendenzen die Partei verlassen hatte, als unabhängiger Volksvertreter. Vor einiger Zeit traf ich ihn bei einer Diskus sion über die heutige türkische Gesellschaft. Er argumentierte wie die meisten türkischen Intellektuellen, wenn sie im Ausland sind: Er verteidigte die Türkei, relativierte die Zustände, erklärte das Phänomen der Ehrenmorde zum »internationalen Problem«. Auch in Norwegen käme so etwas vor, meinte er. Ja, das stimmt, sagte ich: Eine afghanische Frauenrechtlerin war in Norwegen von ihrer Familie umgebracht worden.
Livanelis Äußerungen verunsicherten mich. Eigentlich kannte ich ihn als streitbaren Linken, der für die Rechte der Kurden eintritt, seine Stimme für Demokratie und Menschenrechte erhebt und mithilfe seiner Musik die Feindschaft zwischen Türken und Griechen zu überwinden und Versöhnung zu stiften versucht. Mit einiger Skepsis nahm ich deshalb seinen neuesten Roman zur Hand, den er mir nach unserem Treffen geschickt hatte und der in der Türkei ein großer Erfolg ist. 32
› Hinweis Er handelt von drei Menschen auf der Suche nach dem »Mutluluk«, nach der Glückseligkeit: von der jungen Meryem, die darauf wartet, dass man sie »nach Istanbul« bringt; von Cemal, dem Sohn ihres Onkels, der in der Armee gegen die kurdischen Rebellen kämpft; und von einem anerkannten Professor, der fürchtet, alles zu verlieren, wenn herauskommt, dass seine Reputation nur
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