Bittersüße Heimat.
angesagt habe –, als sich das türkische Ehepaar, das drei Kissen weiter sitzt, vorstellt. Er ist aus beruflichen Gründen in Mardin, seine Frau, Professorin für Literatur in Istanbul, ist mitgekommen, weil sie das Hotel so reizend findet und die beiden hier ihren 30-jährigen Hochzeitstag feiern. Wir gratulieren und stoßen mit Tee an. In Istanbul wohnen sie direkt am Bosporus, erzählt er und beginnt, von der »aufregendsten Stadt der Welt« zu schwärmen. Selbst die Ehefrauen seien eifersüchtig auf die Stadt, weil die Männer immer vom Bosporus träumten, den sie mehr liebten als ihre Frauen. Ja, so sei es, sagt sie. Und so multikulturell sei die Stadt, sagt er, Menschen aus aller Welt lebten dort. »Das soll uns Türken erst einmal ein Land nachmachen, so wie wir die Fremden lieben«, meint er und wirft Peter dabei einen vorwurfsvollen Blick zu. Der lächelt zurück, nickt und antwortet auf Deutsch: »Null zu eins.« Ich übersetze das besser nicht. Aber, schwadroniert unser Tischnachbar weiter, im Wesen seien die Türken sehr deutsch, auch sie würden das Reisen lieben und bis zum Umfallen arbeiten. »Meine Frau wird Ihnen bestätigen, dass ich außer meiner Arbeit, Reisen und einigen Feiern am Bosporus nichts anderes kenne«, sagt er, und wieder stimmt sie ihm zu. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück will seine Gattin shoppen gehen, es gebe doch so fantastischen Silberschmuck in der Stadt. »Ich werde in der Zeit einen kleinen Besuch machen«, sagt ihr Mann. Im Foyer wartet eine Polizeieskorte auf ihn. Er gibt uns zum Abschied seine Visitenkarte. Er ist Generalstaatsanwalt.
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Istanbul leuchtet
»Der Bosporus ist ein Fluss mit der Durchsichtigkeit des Meeres , ein Salzwasserfluss , der zwei Meere verbindet , ein Fluss zwischen zwei Weltteilen , wo jeder Fleck malerisch , jede Stelle historisch ist; hier wirbt der Orient um Europa und träumt , er sei der Herrscher.« So schrieb Hans Christian Andersen 1840 in seinen Reisebeschreibun gen »Eines Dichters Basar« . Dichter und Musiker hat die Stadt am Bosporus schon immer inspiriert , aber in den ersten Jahren der Re publik erblühten auch die bürgerlichen Freiheiten – und gleichzei tig wurde die Weltmetropole in weniger als fünfzig Jahren zu einem Mega-Dorf .
Istanbul ist nicht nur eine Stadt , die niemals schläft , es ist auch eine Stadt , die nicht endet . In der Mitte der Bosporus , das Marmara-Meer und ringsherum ein endloses Häusermeer . Wer eine Fähre besteigt , sieht die unvergleichliche Silhouette von Sultanahmet mit den großen Moscheen und Minaretten au f dem Hügel neben dem Topkapi-Serail , die Galatabrücke , die über das Goldene Horn von Eminönü nach Beyoglu , dem Genueser Viertel mit dem Galataturm , führt und unmittelbar darunter die modernen Ozeanriesen , die am Pier festgemacht haben . Man hat alles au f einmal vor sich – den Orient , den Okzident , die Geschichte und die Gegenwart , die Stille des Meeres , das Brausen der Stadt , das Geschrei der Möwen . Man schaut hinaus aufs Meer , wo das Wetter den Tag bestimmt , wendet den Kop f und sieht die an den Hügeln klebenden Häuser , eins über dem anderen , als wolle jedes Haus sich über das andere erheben , um den freien Blick au f das Meer zu gewinnen .
Aber die »andere Welt« , die Welt der sogenannten Gecekondus , der Millionenvororte , in denen billige und schnell hochgezogene Wohnblocks stehen und die vom Dor f mitgebrachten archaischen Sitten das Leben regieren , wächst und wächst und ist längst bis in das pittoreske europäische Istanbul vorgedrungen .
Im Gecekondu
Nach Istanbul – das war für meine Eltern wie für viele andere der Weg aus der Enge des weiten Anatolien in die Moderne, der Schritt aus der Kontrolle der Großfamilie zur selbstbestimmten Kleinfamilie. Es war der Weg vom Dorf in die Stadt, von der abhängigen Arbeit auf dem Hof in die »freie« Lohnarbeit, die Erprobung anderer Lebensentwürfe. In Istanbul wie in den anderen großen Städten veränderte sich das Leben zuerst. Das »rückständige« Anatolien wurde vergessen, nichts mehr dort investiert. »Die Musik« spielte in Istanbul, und zwar so laut, dass ein unaufhörlicher Binnenstrom an Menschen einsetzte und Istanbul inzwischen die Stadt mit dem größten kurdischstämmigen Bevölkerungsanteil ist. Darauf war die Stadt am Bosporus nicht vorbereitet. Das grüne Istanbul mit seinen großen Wäldern am Wasser und auf den Hügeln wurde betongrau durch seine endlosen Gecekondus.
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