Bittersüße Heimat.
Bars, die Geschäfte, die Gassen, die Mietshäuser im italienischen Stil, gegenüber der historische Teil der Stadt mit dem Basar, den großen Moscheen. In Galata und Beyoglu das Handwerkerviertel mit den Straßen der Elektriker, Klempner, der Musiker, auf der anderen Seite in Eminönü die Straßen der Händler – das sind die Ober- und Unterströmungen der Stadt.
An diesem Sonntag schiebt sich eine dicht gedrängte Menschenmenge die Uferpromenade in Eminönü entlang, Menschen aus allen Teilen des Landes, Frauen in schwarzen Tschadors ebenso wie Frauen, die nach der neuesten Mode der Islamisten ein buntes, weit über die Schultern fließendes Kopftuch zum bodenlangen Mantel tragen. Rechts und links von der Brücke sind – umschwirrt von Möwen, die auf Beute hoffen – Boote vertäut, auf denen man gegrillte Makrelen erstehen kann.
Der Menschentross strebt durch einen Fußgängertunnel hindurch zu dem Platz vor dem ägyptischen Basar. Dort wird in einem unbeschreiblichen Gewühl alles verkauft, vom neuesten piependen Spielzeug über Handys bis zu Handtüchern. Auch nach dem Verlassen der Passage ist das Gedränge noch so dicht, dass man kaum vorwärtskommt. Hier vor dem Basar und der Rüstem-Pascha-Moschee ist die ehemalige Landbevölkerung unter sich, die wenigen Touristen werden bestaunt und sind das bevorzugte Ziel der fliegenden Händler, die spottbillige Imitate von Markenparfüms feilbieten. Aber auch Jeans, T-Shirts, Schuhe und einfache Haushaltswaren liegen auf Decken ausgebreitet vor den zahllosen Händlern, die lautstark ihre Waren anpreisen und gleichzeitig achtgeben müssen, dass die Massen sie nicht niedertrampeln.
Plötzlich ertönt eine Trillerpfeife: Zwanzig Polizisten in blauen Overalls stürmen auf den Platz. Die Händler raffen ihre Decken zusammen, werfen sie über die Schultern und verschwinden im Getümmel. Ein alter Mann ist nicht schnell genug weggekommen, er kann keine Lizenz vorweisen und muss mit den Polizisten zumEinsatzwagen. Für einen Moment versinkt der Platz in eine eigentümliche Beschaulichkeit, wird still und ruhig, wie ich ihn früher kannte. Aber die Veränderung währt nur kurz. Eine halbe Stunde später ist alles lärmend und voll wie vorher.
Die Stadt wird von Jahr zu Jahr voller. Der Platz vor der Moschee scheint der Zielpunkt für alle Zuwanderer aus dem Osten zu sein. Mich würde nicht überraschen, wenn Meryem aus Livanelis Roman mit ihrem Plastikbeutel auf einmal vor mir auftauchen würde. Der ganze Platz scheint mir voller Meryems. Auch die Menschen aus den Vororten erobern sich das Zentrum, Frauen, die früher in ihren Vierteln, in den mahalles , blieben. Die großen Einkaufsstraßen wie die Istiklal Caddesi mit ihren Nebenstraßen in Beyoglu sind fest in der Hand junger Männer, aber im Basarviertel, in Sultanahmet und in Fatih gehört die Stadt den Religiösen und den Menschen aus den Gecekondus.
Während der Professor in der Ägäis segelt und seine Nöte in Alkohol zu ertränken versucht, geraten Meryem und ihr Cousin auf der Suche nach Cemals älterem Bruder in ein von der Welt verlassenes Viertel, wo die Polizei Extremisten vermutet. Meryem ahnt, dass ihr Glück, einmal in ihrem Leben in Istanbul zu sein, nur kurz währen wird. Sie ahnt inzwischen, was mit ihr geschehen soll. Cemal stößt sie einen Berg hinunter und bricht anschließend weinend zusammen. Meryem überlebt durch einen Zufall und tröstet den Cousin.
In Istanbul ist das Leben in Parallelwelten längst Realität. In bestimmten Stadtteilen hat sich die säkulare, westlich orientierte Gesellschaft auf ihre Wohlstandsinseln, in die bewachten Shopping-Malls und Szenecafés zurückgezogen, der Muezzin wird mit dem iPod übertönt, und man tut so, als könne man den tatsächlichen Verhältnissen im Land entkommen, indem man sie ignoriert. Eine leichtsinnige Selbsttäuschung, denn die Islamisierung des Alltags schreitet voran, genauer gesagt: Sie wird sichtbar. Vor Beginn der islamischen Revolution im Iran war kaum eine Frau in Istanbul verschleiert, jetzt tragen, nach meiner spontanen Zählung an einem Sonntagnachmittag im Gülhane-Park unterhalb des Topkapi-Palastes, zwei von drei Frauen Kopftuch und langen Mantel.Das mag nicht repräsentativ sein, aber das Bild der Stadt hat sich in den letzten zehn Jahren eindeutig verändert.
Getrennt feiern
Die Bürgermeister der AK P haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass der Islam das gesamte öffentliche Leben besetzt: Die Volkshäuser,
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