Bitterzart
ich sie, ob sie wohl für mich ein Auge auf Leo haben könne. »Das hatte ich eh vor«, sagte sie.
Win, Natty und Scarlet waren ins Wohnzimmer gegangen, nur Yuji Ono stand noch im Eingang.
Ich zog meinen Morgenmantel enger um mich und bedauerte inständig, mich nicht richtig angezogen zu haben. »Es tut mir leid, dass ich dich warten lassen musste. Ich weiß, dass du es eilig hast.«
Yuji winkte ab. »Ich würde gerne unter vier Augen mit dir sprechen«, sagte er. »Kann man uns hier hören?«
Ich schlug vor, auf den Balkon zu gehen. Wir durchquerten das Wohnzimmer, vorbei an den anderen. Win sah mich fragend an, ich lächelte ihm schwach zu, um ihm zu versichern, dass alles in Ordnung war.
»Warum warst du heute nicht bei der Totenwache?«, fragte Yuji, als ich die Balkontür hinter uns geschlossen hatte.
Ich erklärte ihm, dass ich krank sei und Angst gehabt hätte, andere anzustecken.
Er musterte mein Gesicht, mir wurde unbehaglich zumute. Da ich nur den Morgenmantel trug, begann ich zu frösteln, und Yuji bot mir seinen Mantel an. Ich lehnte ab, doch er bestand darauf, zog ihn aus und legte ihn mir um die Schultern.
»Aus welchem Grund hat Leo Mickey geschlagen?«, fragte ich.
»Das weiß ich auch nicht genau. Kurz vorher unterhielt sich Leo mit seinem Freund, Yuris unehelichem Sohn mit der Prostituierten – ich kann mir den Namen des jungen Mannes nicht merken.«
»Jakov Piroschki«, sagte ich.
»Und plötzlich lief er quer durch den Raum und ging auf Mickey los. Ich wollte mit dir sprechen, weil ich mir Sorgen mache, dass dieser Jacks möglicherweise einen unguten Einfluss auf deinen Bruder hat.«
»Das kann sein, aber ich glaube nicht, dass Jacks Leo angestiftet hat, Mickey Balanchine zu schlagen, wenn du das damit sagen willst. Ich befürchte, einer unserer Anwälte hat Leo die Idee in den Kopf gesetzt, dass Galina noch am Leben wäre, wenn wir nicht zu der Hochzeit gefahren wären«, erklärte ich.
Yuji streckte die Hände aus, dann holte er tief Luft und senkte den Kopf. Ich merkte, dass er überlegte, ob er mit mir Klartext sprechen sollte. »Anya, was ich dir jetzt sagen werde, gründet auf größtem Respekt für dich und deine Familie, besonders für die Beziehung zwischen unseren geliebten Vätern, die beide tot sind.« Er hielt inne und räusperte sich. »Es ist Zeit für dich, dein Haus zu bestellen.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast zugesehen, wie die Dinge außer Kontrolle geraten, aber es ist noch nicht zu spät. Ich bin mir sicher, dass dein Bruder unter dem Einfluss von Jakov Piroschki steht. Aber es geht um mehr. Ich habe die Reise nach Amerika wegen der fünf großen Schokoladen-Dynastien unternommen. Weißt du, wen ich damit meine?«
Ich nickte. »Die Balanchines hier. Ihr drüben in Asien. Dann die …« Ich hielt inne. Ich wusste wirklich nicht, wer die anderen drei Familienclans waren.
»Ja, so wie dir ging es mir früher auch«, sagte Yuji. »Ich hatte mein ganzes Leben im Schatten dieses Unternehmens verbracht, ohne irgendetwas Genaues darüber zu wissen: In welchem Klima der Kakaobaum gedeiht, wie die Fabriken aussehen, warum Schokolade in Teilen der Welt verboten ist, welche Menschen mit dem Anbau und dem Verkauf ihren Lebensunterhalt verdienen, was –«
»Schon gut«, unterbrach ich ihn. Ich merkte, dass er mich kritisierte. »Warum sollte ich irgendwas darüber wissen, wenn ich keinerlei Absicht habe, jemals in dem Unternehmen zu arbeiten?«
»Ja«, sagte Yuji, »so habe ich früher auch gedacht, ich wehrte mich auch dagegen. Aber Menschen wie du und ich, Anya, wir haben keine Wahl. Wir werden in dieses Schicksal hineingeboren. Du wirst mit Schokolade zu tun haben, ob du willst oder nicht. Du bist das älteste Kind von Leonyd Balanchine und –«
»Das bin ich nicht! Leo ist der älteste.«
»Das war er«, verbesserte mich Yuji. »Du bist ein cleveres Mädchen, du verstehst, was ich damit meine.«
Ich schwieg.
»Kannst du aufrichtig sagen, dass du es für eine kluge Taktik hältst, nichts mit eurem Familienunternehmen zu tun zu haben? Warum warst du letzten Herbst im Gefängnis? Warum wurde dein Freund vergiftet und hat einen Fuß verloren? Warum sind dein Vater und deine Mutter tot? Und so viele in meiner Familie ebenfalls? Warum ist dein Bruder so, wie er ist? Anya, du bist jetzt fast erwachsen, es wird Zeit.«
»Zeit wofür?«, wollte ich wissen.
»Dass du dein Geburtsrecht annimmst und das Beste daraus machst«, sagte Yuji.
»Und was ist mit Yuri?
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