Bitterzart
Und Yuris Sohn? Die leiten doch den Balanchine-Clan, oder?«
»Aber nicht gut. Nicht klug. Die anderen Familien spüren die Schwäche und den Aufruhr bei euch. Sie sehen Möglichkeiten. Und dein Onkel hat viele Feinde. Er hätte niemals der Chef des Balanchine-Clans werden dürfen, das weiß jeder. Als dein Vater ermordet wurde, dachten alle, deine Großmutter Galina würde übergangsweise die Führung übernehmen, aber sie zog es vor, stattdessen dich und deine Geschwister großzuziehen.«
Das hatte ich nicht gewusst.
»Die Situation ist sehr gefährlich für dich, Anya. Es werden noch mehr Menschen sterben. Glaub mir! Die Fretoxin-Vergiftung war nur der Anfang.«
»Ich trage Verantwortung«, sagte ich. »Ich kann meine Familie – damit meine ich Natty und Leo – am besten beschützen, wenn ich uns alle aus dem Geschäft raushalte.«
Yuji sah mir in die Augen. »Wenn ich das richtig verstehe, sind Windpocken nur ansteckend, bevor sie verschorfen. Du hättest heute auf Galinas Totenwache sein können, aber du hast dich dagegen entschieden. Für mich sieht es so aus, als ob du lieber mit deinem Freund zu Hause rumgeknutscht hast.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch, oder?«, sagte Yuji.
»Was willst du von mir?«, fragte ich.
»Ich bin hier, weil ich ein Freund deiner Familie bin, deshalb wurde ich beauftragt, für die anderen Clans einen Bericht über das Verhalten der Balanchines seit der Vergiftung zu erstellen.«
»Und, was wirst du sagen?«
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Yuji. »Meiner Meinung nach steht deine Familie kurz vor einer gewaltigen Selbstzerfleischung. Die Haltung einiger ist intransigent. Einerseits mag es im besten Interesse der anderen Familien sein, es einfach laufen zu lassen, und wenn es vorbei ist, stürzen wir uns auf die Reste und teilen das Geschäft der Balanchines unter uns auf.«
Ich wusste nicht genau, was »intransigent« bedeutete. Musste es später nachschlagen.
»Andererseits glaube ich, dass es für die Schokoladenindustrie besser ist, starke Partner zu haben. Dein Vater war ein großartiger Chef. Und ich glaube, dass du auch ein großartiger Chef werden kannst.«
»Du bist schon genauso verbohrt wie die anderen. Mein Vater war kein großartiger Chef. Er war ein ganz gewöhnlicher Verbrecher. Ein Dieb und Mörder.«
»Nein, Anya, da irrst du dich. Leonyd Balanchine war ein einfacher Geschäftsmann, der versuchte, aus einer schlechten Situation das Beste zu machen. Schokolade war nicht immer verboten, sie könnte eines Tages wieder erlaubt sein. Vielleicht geht es bald gar nicht mehr um Schokolade.«
»Worum denn dann?«
»Das ist leider ein weites Feld. Vielleicht um Kinderarbeit. Aber ich bin nicht der Einzige, der glaubt, dass es um Wasser gehen wird. Es wird schon seit längerem knapper, und wer den Wasservorrat kontrolliert, wird die ganze Welt in der Hand haben.«
»Ich kann das aber nicht!«, rief ich. »Ich bin noch ein Mädchen, und ich muss mich um meinen Bruder und meine Schwester kümmern. Ich möchte gerne die Schule abschließen und danach vielleicht zum College gehen. Was du da von mir verlangst, ist unmöglich.«
»Ich sage dir etwas, was mein Vater mir immer eingeschärft hat: ›Yuji, entweder ist man ein Zuschauer, der in seinem Leben auf die Entscheidungen anderer reagiert, oder man ist der Anführer, der diese Entscheidungen selbst trifft.‹ Vielleicht ist es übersetzt nicht ganz so zugespitzt wie im Japanischen, aber du verstehst, worauf ich hinauswill. Du sagst, du willst vor allem deinen Bruder und deine Schwester beschützen. Ich frage dich, Anya: Von den beiden Möglichkeiten, die mein Vater anführte – welche ist deiner Ansicht nach besser geeignet, die eigene Familie zu schützen? Wenn man nur herumläuft und versucht, jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen? Oder wenn man weiß, dass es Konflikte gibt, und sie annimmt? Weißt du, was mein Vater für die beste Rolle im Leben hielt?«
Ich schüttelte den Kopf. Yuji war wirklich engagiert, aber ich wusste nicht genau, ob ich verstand, worauf er hinauswollte.
»Ein Katalysator zu sein. In der Chemie leitet der Katalysator eine Veränderung ein, wird aber selbst nicht verändert.«
»Dein Vater ist tot, Yuji«, erinnerte ich ihn. »Genauso wie meiner.«
In dem Moment kam ein zweiter Japaner auf den Balkon. Es war der gewaltigste Mensch, den ich je in natura gesehen hatte. Er hatte einen so riesigen Bauch und dicke Arme wie ein Sumoringer, trug einen schwarzen Anzug und das schwarze
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