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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es konnte nur einer von Yujis Leibwächtern sein. (Er musste die ganze Zeit draußen auf dem Gang gewartet haben.) Der Fremde sprach mehrere Sätze auf Japanisch, Yuji antwortete freundlich. Dann verbeugte er sich vor mir. »Ich muss gehen«, sagte er und wurde nun deutlich förmlicher als zuvor. »Ich breche heute Nachmittag zurück nach Asien auf. Ich habe diesen Besuch so weit wie möglich in die Länge gezogen. Vielleicht sogar länger, als klug war. Wir werden uns so bald nicht mehr sehen. Aber wenn Sie mit mir sprechen müssen, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen. Auf Wiedersehen, Miss Balanchine. Und viel Glück!« Er verbeugte sich erneut.
    Ich brachte ihn zur Tür, vorbei an Win, Scarlet und Natty, dann ging ich ins Badezimmer, um mir Wasser ins Gewicht zu spritzen, bevor ich wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte. Ich sah mich kurz im Spiegel an. Alle Pusteln waren verschorft, und ich fühlte mich zwar besser, aber sah wirklich grauenhaft aus. Ein winziger Teil von mir schämte sich ein wenig, weil der gutaussehende, dreiundzwanzigjährige Yuji Ono gezwungen gewesen war, mich in dieser Hässlichkeit zu sehen. Ich wäre niemandem in diesem Zustand gerne gegenübergetreten, aber schon gar nicht meinem Schwarm aus Kindertagen. Allerdings wurde mir nun klar, dass es mehr als ein Fehler gewesen war, nicht zu Nanas Totenwache zu gehen: Es war eine selbstsüchtige Sünde gewesen. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Leo sonderbar reagierte. Yuji hatte recht. Auch wenn ich es behauptet hatte, war es nicht meine Krankheit oder die Angst gewesen, andere anzustecken, die mich von der Teilnahme abgehalten hatte, sondern meine Eitelkeit.
    Das war eine gute Lektion.
    Ich ging in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte, den Rest des Tages im Bett zu verbringen, gab es Dinge zu erledigen. Ich musste Yuri und Mickey Balanchine aufsuchen, um den Zwischenfall mit meinem Bruder zu erklären.
    Es klingelte an der Tür. Ich dachte, es wäre vielleicht Yuji Ono, der mir sagen wollte, auf welche Weise ich sonst noch versagt hatte, aber er war es nicht: Vor der Tür standen Mr. Kipling und Simon Green. Sie hatten die Totenwache hinter sich gebracht und wollten nun nach Leo und dem Rest sehen.
    »Doch«, erwiderte ich, »uns geht’s ganz gut. Leo ruht sich aus. Und ich will gerade los, um das mit Yuri und Mickey wiedergutzumachen. Weiß zufällig einer, was das Wort ›intransigent‹ bedeutet?«, fragte ich.
    »Unversöhnlich«, erwiderten sie im Chor.
    »Es bezeichnet eine unnachgiebige Haltung in einer Meinungsverschiedenheit«, führte Simon Green aus.
    »Geht es um ein Schulreferat?«, erkundigte sich Mr. Kipling.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Du siehst schlimm aus«, bemerkte Simon Green nicht gerade hilfreich.
    »Vielen Dank«, erwiderte ich.
    »Nein, ich wollte nur sagen: Meinst du wirklich, dass du schon rausgehen kannst?«, hakte Green nach.
    »Ich würde lieber hierbleiben, aber ich glaube nicht, dass es aufgeschoben werden kann«, sagte ich.
    »Anya hat recht«, meinte Mr. Kipling. »Wenn kleine Wunden nicht behandelt werden, können sie schwären und zu weit ernsteren Verletzungen führen. Wir bringen dich hin, wenn du willst.«
    »Nein«, entgegnete ich. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich alleine gehe. Das wirkt nicht so formell.«
    Mr. Kipling sagte, wahrscheinlich läge ich richtig mit meinem Gefühl, doch er bestand darauf, mich mit Simon Green auf der Busfahrt zum Pool zu begleiten.

XVI.
    Ich entschuldige mich mehrfach, und man entschuldigt sich einmal bei mir
    Wie schon erwähnt, lag der Pool an der West End Avenue auf Höhe der Neunziger-Straßen, unweit von unserer Schule. Auch wenn ich mich nur ungern dort aufhielt, war das Gebäude auf seine Weise schön. Mosaikfliesen an den Wänden schimmerten golden, weiß und türkisfarben. Obwohl seit Jahren niemand mehr hier geschwommen war, roch es noch leicht nach Chlor. Und weil die ehemalige Badeanstalt unterirdisch lag, war es ruhig und kühl darin. Geräusche bekamen ein ungewöhnliches, unvorhersehbares Echo. Mein Vater hatte diesen Ort gewählt, weil er billig, leicht zu sichern und praktischer als sein altes Büro in Williamsburg war. Außerdem konnte ich mir vorstellen, dass er ihn auch ästhetisch angesprochen hatte. Einer der Hauptgründe, warum ich nicht gerne im Pool war, bestand darin, dass er mich so sehr an meinen Vater erinnerte.
    Fats wartete mit Jacks im Eingangsbereich.

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