Bitterzart
sprechen?«
»Entschuldige«, sagte ich. »Dauert nur einen Moment.« Ich huschte den Flur hinunter zu Leos Zimmer, vor dem Imogen mit einer Tüte gefrorener Erbsen stand. »Dein Bruder hat sich eingeschlossen, er will die Tür nicht öffnen. Du musst das Schloss knacken.«
Ich klopfte an. »Leo, ich bin’s, Annie. Lass mich bitte rein!«
Keine Antwort.
Ich nahm den kleinen Nagel vom Türrahmen, den wir zu ebendiesem Zweck dort aufbewahrten, und begann, mich am Schloss zu schaffen zu machen. Obwohl mir alles Mögliche durch den Kopf ging, brauchte ich lediglich fünfzehn Sekunden. Meine Geschicklichkeit hatte ich nicht verloren. Ich nahm Imogen die Erbsen ab und sagte, ich würde selbst reingehen.
Leo saß auf dem Bett und sah aus dem Fenster. Er weinte nicht, was ich für ein gutes Zeichen hielt.
»Leo«, sagte ich sanft. »Du musst dir etwas aufs Auge legen.«
Er antwortete nicht, deshalb setzte ich mich neben ihn aufs Bett. Ich hob den Arm, um ihm den Erbsenbeutel aufs Gesicht zu drücken. Er wich mir aus. »Annie, lass mich in Ruhe!«
»Bitte, Leo! Du musst nichts sagen. Ich will dir das nur aufs Auge legen. Bei deiner gesundheitlichen Vorgeschichte habe ich ein besseres Gefühl, wenn ich weiß, dass dein Kopf nicht zu stark anschwillt. Ich möchte nicht, dass du einen Anfall bekommst.«
»Na, gut.« Leo entriss mir die Tüte und legte sie auf sein Auge.
»Danke. Du bist sehr wichtig für unsere Familie. Für mich«, fügte ich hinzu. »Du musst sehr gut auf dich aufpassen.«
Er schwieg. Dann sagte er: »Das tut weh«, nahm die Packung wieder fort und legte sie sich in den Schoß. Endlich konnte ich sein Auge gründlich betrachten. Das Lid war zugeschwollen, über seine Wange zog sich ein rosa-violetter Streifen. In der Nähe der Schläfe blutete er leicht. »Ach, Leo«, sagte ich. »Wer hat das getan?«
Er nahm die Erbsen wieder hoch. »Ich hab ihn zuerst geschlagen.«
»Wen? Wen hast du geschlagen?« Nach Leos Unfall als Kind hatte er Probleme gehabt, seine Wut zu kontrollieren, doch das war seit Jahren kein Thema mehr gewesen.
»Annie, ich will nicht darüber reden.«
»Ich muss wissen, wen du geschlagen hast, falls ich deswegen etwas unternehmen muss«, erklärte ich ihm. »Das braucht nichts Schlimmes sein, aber wir müssen uns vielleicht entschuldigen oder zumindest darüber reden und deinen Zustand erklären.«
Leo warf die Erbsentüte gegen das Fenster, sie riss auf. Erbsen kullerten in alle Richtungen. » Hör auf, Anya! Du bist nicht mein Boss, und du weißt auch nicht alles.«
»Gut, Leo. Du hast recht. Sag mir bitte nur, wen du geschlagen hast. Ich muss es wissen.«
»Mickey, unseren Cousin«, sagte er.
Es ist beim Leser wohl noch bekannt, dass Mickey der Sohn von Yuri Balanchine und höchstwahrscheinlich sein Nachfolger war. Da wäre auf jeden Fall eine Entschuldigung fällig, idealerweise so schnell wie möglich.
»Warum denn, Leo? Hat Mickey dir was getan?«
Leos Blick wanderte in die rechte obere Ecke des Zimmers. Ich spähte hinauf, um zu sehen, was da war, sah aber nichts. »Es ist seine Schuld, dass Nana tot ist«, sagte Leo schließlich.
»Wie bitte?«
»Wenn wir nicht unterwegs gewesen wären bei dieser blöden Hochzeit, wäre Nana nicht gestorben. Dann wäre sie jetzt noch da, und ich wäre nicht … Warum mussten wir überhaupt zu dieser Hochzeit fahren?«
»Nana wollte es so, weißt du das nicht mehr? Sie fand es wichtig, dass wir uns sehen ließen, um dem Rest der Familie unseren Respekt zu bekunden.«
Leo rang seine Hände. »Es ist viel Verantwortung. Eine große Belastung. Es ist viel Druck.«
»Wovon redest du?«
»Für dich und Natty verantwortlich zu sein. Nana fehlt mir. Ich will Nana zurück. Und Daddy!«
»Ach, Leo. Du bist doch nicht allein. Ich bin auch noch da.«
»Aber du bist meine kleine Schwester. Ich muss dich beschützen.«
Ich lächelte. Irgendwie war es rührend, dass er mich so sah. »Leo, ich kann wirklich auf mich selbst aufpassen. Das tue ich schon länger.«
Er schwieg.
»Würdest du dich hinlegen, mir zuliebe? Ich glaube, es wäre gut, wenn du dich ausruhst.«
Leo nickte. Ich lockerte seine Krawatte und zog sein blutverschmiertes Hemd aus, dann legte er sich hin. »Meinst du, die sind jetzt alle sauer auf mich?«, fragte er.
»Darüber mach dir jetzt mal keine Gedanken. Ich werde ihnen das erklären. Alle verstehen, wie schwer Nanas Tod für uns ist.«
Ich verließ sein Zimmer. Imogen stand noch immer im Flur, deshalb fragte
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