Bitterzart
stark, und Gott mutet uns nie mehr zu, als wir ertragen können.«
Ich fühlte mich nicht stark. Ich hätte mir lieber die Decke über den Kopf gezogen und wäre nie mehr hervorgekommen. Ich war so unglaublich müde. »Lies meinetwegen, wenn du unbedingt willst«, sagte ich zu Imogen.
»Erstes Kapitel«, begann sie. »Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, dass von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte …«
Abgesehen davon, mich selbst vom Kratzen abzuhalten, unternahm ich in den nächsten fünf Tagen so gut wie nichts. Aufgrund meines Zustands konnte ich nicht mal an Nanas Totenwache teilnehmen. Stattdessen begleiteten Scarlet und Imogen Natty. Ich hatte Scarlet gesagt, sie solle auch Leo im Auge behalten. (Scarlet hatte Glück gehabt und sich nicht bei mir angesteckt. Sonderbarerweise war der einzige Mensch in der Schule, der ebenfalls Windpocken bekommen hatte, Mr. Beery.)
Ich hatte kein besonders schlechtes Gewissen, weil ich nicht zu Nanas Totenwache gehen konnte. Theoretisch verstand ich, worum es dabei ging – man zollte ebenso den Lebenden wie den Toten Respekt. Dass dabei Gefühle öffentlich zur Schau gestellt wurden, war der Aspekt, mit dem ich Probleme hatte. Bei Daddys Beerdigung beispielsweise hatte ich mich beobachtet gefühlt, und damit meine ich: bewertet. Es reichte nicht, innerlich zu trauern. Für die anderen musste man es öffentlich tun. Auch wenn es mir leidtat, dass ich meine Geschwister diesen Blicken aussetzte, war ich dennoch dankbar, dass die Windpocken mir eine Ausrede gegeben hatten, nicht daran teilzunehmen. Für meine sechzehn Lebensjahre war ich schon auf vielen Beerdigungen gewesen.
Ich half meinen Geschwistern, die passende Kleidung auszusuchen: eine alte schwarze Krawatte von Daddy für Leo, ein altes schwarzes Kleid von mir für Natty. Kurz vor Mittag tauchten Imogen und Scarlet auf, um die beiden abzuholen. Endlich war ich mit meinen roten Pusteln allein, über die ich mir keine Gedanken zu machen versuchte. Zwar juckte bei mir alles und ich fühlte mich unattraktiv, doch wirklich schlecht ging es mir nicht mehr dabei. Kurz nach Mittag klingelte es an der Tür. Es war Win, den ich seit dem Nachmittag nicht mehr gesehen hatte, als er mich im Badezimmer aufgefunden hatte. Ich sah immer noch schrecklich aus. Das war besonders ärgerlich, weil er so großartig aussah. Er trug einen langen olivgrünen Mantel, der einmal einem in der Arktis stationierten Soldaten gehört haben musste. Wins Haar war noch etwas feucht – wahrscheinlich hatte er kurz zuvor geduscht –, an einigen Stellen war es sogar zu kleinen Spitzen gefroren, weil es draußen so eisig war. Diese Spitzen waren wirklich niedlich. »Ich hab dir etwas mitgebracht«, sagte er, als ich ihn hereingelassen hatte. Er griff in seine tiefe Tasche und holte vier Apfelsinen hervor. »Dein Lieblingsobst.«
Ich nahm eine in die Hand und hielt sie mir unter die Nase.
»Die Experimente meiner Mutter auf dem Dach tragen langsam Früchte«, witzelte Win. »Das sind Cara-Cara-Orangen. Sie sind innen rosa und unglaublich süß.«
Er wollte mir einen Kuss geben, doch ich entzog mich ihm. »Hast du keine Angst, dich bei mir anzustecken?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte schon Windpocken.«
»Die kann man aber zweimal bekommen. Und …«
»Ich bekomme die nicht zweimal«, versicherte er mir.
Ich entfernte mich noch weiter von ihm. »Wie kannst du mich nur küssen wollen? Ich bin im Moment absolut eklig.«
»So schlimm auch nicht«, sagte er.
»Doch. Ich habe mein Spiegelbild gesehen, und ich weiß es genau.«
Win lachte mich an. »Na, gut«, sagte er schließlich. »Ich bin nicht hier, um mich dir aufzudrängen. Ich dachte, du könntest vielleicht Gesellschaft gebrauchen, wenn alle anderen auf der Totenwache sind. Schau, ich schäle dir sogar die Apfelsine.«
Ich erwiderte, dass ich das auch gut alleine könnte.
»Nicht damit«, gab er zurück und wies auf die Handschuhe, auf denen Imogen bestanden hatte. Er legte seine Hand auf meine und drückte sie. Ich spürte das Herz in meiner Brust pochen. Ich musste mit ihm
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