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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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dir.«
    Win schüttelte den Kopf. »Ist ja niedlich.«
    Es klingelte an der Tür. Ich ging hin und schaute durch den Spion. Davor stand ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er hielt einen Karton in der Hand, der in Zellophanfolie gepackt war (die teure Sorte, die man nicht mehr oft sieht, weil sie nicht recycelbar ist). Der Fremde war kleiner als ich und hatte dünne Arme und Beine, die im Vergleich zu seinem runden Bauch verdächtig aussahen. Ich fragte mich, ob er wirklich so dick war oder ob er gepolstert war, um etwas Gefährliches wie beispielsweise eine Waffe zu verbergen.
    »Paket für Anya Balanchine«, rief er.
    »Von wem?«, fragte ich, ohne die Tür zu öffnen.
    »Steht nicht drauf«, erwiderte der angebliche Bote.
    »Eine Minute«, rief ich zurück. Ich ging in Nanas Zimmer und holte Daddys Waffe aus dem Schrank, schob sie in den Bund meines Rocks und kehrte zur Eingangstür zurück. Ich legte die Kette vor und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
    »Was ist drin?«, fragte ich.
    »Wenn ich das sage, ist es keine Überraschung mehr«, entgegnete der Bote.
    »Ich mag keine Überraschungen«, sagte ich.
    »Ach, alle Mädchen werden gerne überrascht«, behauptete er.
    »Ich nicht.« Ich machte Anstalten, die Tür zu schließen.
    »Moment! Da sind Blumen drin!«, rief er. »Nehmen Sie sie bitte an, ja? Sie sind mein letzter Kunde heute Abend.«
    »Ich erwarte keine Blumen«, erklärte ich.
    »Na, das ist ja der Sinn der Sache. Die wenigsten rechnen mit Blumen.«
    Da hatte er recht.
    »Hier unterschreiben!« Er reichte mir das Paket und hielt mir einen elektronischen Apparat hin.
    Ich sagte, ich würde das lieber nicht tun.
    »Ach, bitte, Mädel! Mach mir das Leben doch nicht so schwer! Hier unterschreiben, ja?«
    »Können Sie das nicht für mich tun?«, schlug ich vor.
    »Na, gut«, sagte er und murmelte: »Die Jugendlichen heutzutage haben kein Benehmen.«
    Ich trug das überraschend schwere Paket in die Küche und schnitt die Zellophanfolie mit einem Messer auf. Vierundzwanzig gelbe Rosen mit kurz geschnittenen Stielen steckten in einer flachen viereckigen Vase. Es waren die schönsten Blumen, die ich je bekommen hatte. Ich riss den beigefarbenen Briefumschlag auf, der meinen Namen trug, und las die Nachricht:
    Liebe Anya,
    entschuldige bitte, wenn ich heute etwas forsch zu Dir war. Du hast einen sehr großen Verlust erlitten, und ich habe mich nicht viel besser verhalten als ein gedankenloser Rüpel.
    Gerade ich weiß, welche Opfer Du bringst. Sei versichert, dass Du weder allein noch ohne Freunde bist.
    Dein alter Freund (hoffentlich)
    Yuji Ono

    PS: Als ich klein war, ging es mir einmal schlecht, ich war völlig verzweifelt. Da gab mir Dein Vater die folgenden Worte mit: »Unsere größte Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind, sondern dass wir unglaublich mächtig sind.« Diese Worte habe ich immer im Herzen getragen, weshalb ich sie nun an Dich weitergebe.
    PPS: Vielleicht hast du irgendwann ja mal Gelegenheit, wieder nach Kyoto zu kommen.
    Um all das auf eine Karte zu bekommen, hatte der Verfasser sehr klein und ordentlich schreiben müssen. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, vermutete aber, dass es Yujis Handschrift war – er konnte auf dem Weg zum Flughafen bei einem Floristen angehalten haben. Die Blumen zusammen mit der förmlichen Wortwahl waren für mich ein Zeichen sehr großen Respekts. Darüber hinaus war es ein Geschenk von Yuji, mir etwas zu schreiben, was mein Vater gesagt hatte. Das blieb mir, auch wenn die Blumen irgendwann verwelkt sein würden. Ich beugte mich vor, um an den Rosen zu riechen. Der Duft war sauber und friedlich, er erzählte von einem Ort, an dem ich nie gewesen war, aber den ich sehr gerne eines Tages sehen würde. Eigentlich hatte ich nicht besonders viel für Blumen übrig, aber diese waren … Ich musste zugeben, dass sie wunderschön waren. Kaum hatte ich die Karte in die Tasche geschoben, kam Win in die Küche. Er fragte, wer mir die Rosen geschickt habe, und ohne den Grund zu wissen, log ich ihn an.
    »Ein Verwandter von mir, der es nicht zur Totenwache für Nana geschafft hat«, erklärte ich.
    »Die sehen teuer aus«, meinte er. »Ich muss jetzt los. Ich treffe mich mit ein paar Jungs von der Nicht-Band.«
    »Jetzt schon?« Ich hatte das Gefühl, ihn kaum gesehen zu haben.
    »Anya, ich bin seit acht Stunden hier!«
    Als Win fort war, setzte ich mich an den Küchentisch, die Rosen vor mir, und las die Karte erneut durch. Ich fragte mich, warum Yuri

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