Bitterzart
wieder, und ich glaube nicht, dass es gut für euch ist, wenn es so aussieht, als würde Leo zu oft den Arbeitgeber wechseln oder zu lange arbeitslos sein. Bisher ist ihm doch nichts besonders Schlimmes im Pool zugestoßen, oder?«
»Abgesehen von dem Boxhieb, der offenbar in erster Linie seine Schuld war, ist mir nichts bekannt.«
»Na, dann sollten wir das fürs Erste vielleicht einfach so weiterlaufen lassen. Leo bleibt im Pool, bis die Klinik im Juni wieder aufmacht.«
Als ich aufgelegt hatte, ging ich zum Zimmer meines Bruders, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen.
Ich klopfte an seine Tür. Er lag auf dem Bett und starrte aus dem Fenster. Obwohl sein Auge deutlich besser aussah, wirkte er besorgt und unruhig. Ich stellte ihm mehrere Fragen über seinen Tag, die er einsilbig beantwortete.
»Du siehst müde aus, Leo«, sagte ich schließlich.
»Mir geht’s gut«, erwiderte er.
»Ist was mit deinem Kopf?«
»Mir geht’s gut, Annie! Betüddel mich nicht so!«
»Also, ich habe gute Nachrichten für dich«, sagte ich fröhlich. »Ich habe gerade mit Mr. Kipling telefoniert. Die Tierklinik macht im Sommer wieder auf!«
Zum ersten Mal seit Wochen lächelte Leo. »Oh, das ist super!«
»Würdest du dort gerne wieder arbeiten?«, fragte ich ihn.
Kurz überlegte er, dann erwiderte er: »Ich glaube, das geht nicht.«
Ich fragte nach dem Grund.
»Die brauchen mich im Pool, Annie.«
»Sie brauchen dich auch in der Klinik. Was ist mit den Tieren, Leo?«
Er presste die Lippen störrisch aufeinander und schüttelte den Kopf.
Am liebsten hätte ich geschrien: Warum brauchen sie dich da? Jeder Blödmann kann denen ihre Brötchen holen, aber nur einer kann Nattys und mein Vormund sein. Dort bist du nicht sicher, Leo! Sieh dir dein Auge an! Und wenn ich nur darüber nachdenke, zu diesem Tatortkurs im Sommer zu gehen, dann würde ich gerne sicher sein, dass du dich nicht erschießen lässt! Doch ich schwieg. Schreien half bei meinem Bruder nie groß weiter. Außerdem bekam Leo bereits rote Wangen, und er schürzte die Lippen, so dass sie wie eine rote Nelke aussahen. Ich merkte, dass er jeden Moment in Tränen ausbrechen würde, deshalb entschied ich mich für eine andere Taktik.
»Leo«, sagte ich. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Hilfe?«, fragte er. »Ich würde alles für dich tun, Annie.«
»Ich habe überlegt, ob ich in diesem Sommer vielleicht Urlaub mache. Ich habe das Angebot, an so einem Sommerkurs für Jugendliche teilzunehmen, die vielleicht mal Rechtsmediziner werden wollen. Meinst du, du würdest ohne mich klarkommen? Imogen könnte für dich kochen, und Mr. Kipling könnte sich um deine finanziellen Angelegenheiten kümmern. Ich würde dafür sorgen, dass du mich jederzeit erreichen kannst, wenn du irgendwas brauchst in –«
»Ich bin kein Kind mehr, Annie. Ich bin ein erwachsener Mann.«
»Das weiß ich, Leo. Das weiß ich natürlich. Ich wollte nur sichergehen, dass du auch weißt, dass für alles gesorgt wäre. In den nächsten zwei Jahren bist du Nattys und mein Vormund. Du bist jetzt sehr wichtig.«
»Ja, ich bin sehr wichtig«, sagte er in einem Ton, den man fast als sarkastisch hätte beschreiben können. »Ich bin Anya Balanchines sehr wichtiger älterer Bruder. Ich bin sehr, sehr wichtig, und ich muss jetzt schlafen. Machst du bitte das Licht aus, wenn du gehst, Annie?« Irgendetwas an diesem kleinen Ausbruch stieß mir bitter auf, doch ich hakte nicht nach. Ich gab mich mit dem zufrieden, was er sagte: dass er müde war, mehr nicht.
Leo drehte sich zur Seite. Ich gab ihm einen Kuss auf den Kopf, auf die Narbe, die entstanden war, als man ihm in den Schädel schnitt. Leo war nicht viel jünger als Yuji Ono, und abgesehen von der Narbe hätte er sogar Yuji Ono sein können. Jemand wie er, meine ich.
Ich gab ihm noch einen Kuss. »Gute Nacht, süßer Prinz«, sagte ich.
»Das hat Mommy auch immer gesagt«, gab er zurück.
»Wirklich?«
Er nickte schläfrig.
Ich weiß nicht, wie ich an jenem Abend darauf kam oder warum ich es sagte. Später erfuhr ich, dass es eine Zeile aus Hamlet war und bei Hamlets Tod von einer anderen Figur gesagt wurde. Ich fragte mich, was Mom sich dabei gedacht hatte, ihrem Sohn mit so unheilvollen Worten eine gute Nacht zu wünschen. Doch ich wusste bei vielen Dingen nicht, was sich meine Mutter dabei gedacht hatte.
Als sie starb, war ich sechs Jahre alt, so dass sie für mich in gewisser Weise wie eine Romanfigur war, und zwar eine nur schwach
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