Bitterzart
früher einmal völlig verzweifelt gewesen war. War es, als sein Vater starb? Oder war es früher gewesen? Mir fiel wieder ein, dass er als Kind entführt worden war. Damals hatte er seinen Finger verloren, doch Genaueres wusste ich nicht.
Abermals las ich die Karte. Ist es übertrieben, wenn ich sage, sie vermittelte mir das Gefühl, gesehen zu werden? Ich hatte so einen großen Teil meines Lebens mit der Sorge darum verbracht, dass wir immer unauffällig blieben, in anderen Worten: gesund und lebendig. Und doch war es jemandem aufgefallen. Jemand hatte es gesehen. Jemand hatte sich bei mir entschuldigt. Und nicht bloß irgendjemand, sondern jemand in einer außergewöhnlichen Position, der wusste, wie die Sache lief, der das Spiel aus dem Effeff beherrschte. Jemand, der so gelitten hatte wie ich.
Ich war nicht allein.
Ich schob die Karte zurück in die Tasche und ging in Nanas Zimmer, um die Waffe wieder in den Schrank zu legen.
XVII.
Ich schmiede Pläne für den Sommer
Als ich wieder zur Schule ging, bestand meine erste Amtshandlung darin, Nattys Lehrerin aufzusuchen. Während meiner Genesung war ich zu einer Entscheidung bezüglich des Sommerlagers für Hochbegabte gekommen: Natty sollte daran teilnehmen, und ich wollte alles in meiner Macht Stehende tun, damit es auch klappte. Als Miss Bellevoir die Neuigkeit hörte, führte sie sich so lächerlich auf wie erwartet: Sie nahm mich in die Arme und küsste mich, dann überhäufte sie mich mit Anweisungen und Telefonnummern, Anmeldefristen und Kosten. »Wir sind nun zusammengeschweißt in diesem hehren Streben«, sagte sie, als ich ging. Ich wollte nicht mit ihr zusammengeschweißt sein. Ich hatte schon so genug Verpflichtungen.
Mein Gespräch mit Miss Bellevoir dauerte länger, als ich gedacht hatte, so dass ich fünf Minuten zu spät zu Dr. Laus Kurs in Rechtsmedizin kam. Normalerweise war die Lehrerin locker, was Verspätungen anging, besonders bei mir, aber an diesem Tag senkte sie die Brille und sagte mit strenger Stimme: »Ms. Balanchine, ich würde nach dem Unterricht gerne mit Ihnen sprechen.« Ihr Tonfall war so barsch, dass meine Klassenkameraden ein lautes »Oooh« von sich gaben. Ich setzte mich neben Win und wartete darauf, dass die Stunde zu Ende ging, damit ich meine Strafe erhalten konnte. Ich mochte Dr. Lau und war eine gute Schülerin, aber dieses Schuljahr war sicherlich nicht mein bestes gewesen. Ich hatte insgesamt fast einen Monat Unterricht verpasst, und Rechtsmedizin II war besonders schwer nachzuholen, da ein so großer Teil aus Laborarbeit bestand.
Es klingelte. Ich sagte Win, er solle schon mal vorgehen. »Viel Glück«, sagt er.
Langsam begab ich mich zu Dr. Laus Schreibtisch. Ich widerstand dem Drang, mich für mein längeres Fehlen zu entschuldigen. Es ist eine Schwäche, sich zu entschuldigen, bevor man die Vorwürfe des anderen kennt. Schließlich will man kein neues Fass aufmachen, wenn eigentlich nichts ist. (Noch ein Spruch von Daddy, falls das nicht schon klar war.) »Ah ja, Ms. Balanchine«, sagte Dr. Lau. »Sehen Sie sich doch bitte mal das hier an!«
Sie tippte auf ihren Bildschirm, um eine Datei auf meinen Tablet zu schicken. Ich öffnete und überflog sie:
Sommerkurs:
Tatortanalyse für Jugendliche
30 . Juni – 15 . August 2083
Washington, D. C.
Gefördert vom FBI und der Gesellschaft
der Kriminologen
Bewerbungsschluss: 8 . April 2083
An alle Lehrer: Gesucht werden nur Ihre besten Nachwuchskriminologen.
In Frage kommende Schüler müssen mindestens zwei (vorzugsweise drei) Jahre Rechtsmedizin absolviert, ihr vorletztes und letztes Jahr erfolgreich abgeschlossen haben und außerordentliche Begabung vorweisen können (Tatortarbeit, Umgang mit Spurenmaterial usw.).
Die Konkurrenz wird groß sein.
Ich legte meinen Tablet beiseite und sah Dr. Lau an.
»Sie hatten zwar erst zwei Jahre Rechtsmedizin, aber die hatten Sie bei mir. Ich bin mir sicher, dass zwei Jahre bei mir dasselbe sind wie drei Jahre bei so gut wie jedem anderen Lehrer«, prahlte Dr. Lau. »Es ist ein anspruchsvoller Ferienkurs«, fuhr sie fort. »Viel Feldforschung, die ich Ihnen hier nicht bieten kann. Und Sie würden den Sommer mit Jugendlichen Ihres Alters verbringen. Es wird viel unternommen: Eiscreme essen, Bowling und so weiter. Auch wenn es darum nicht geht. Sie haben ein Talent für Rechtsmedizin, das könnte ein sehr wichtiger Schritt für Sie sein, Anya.«
Die Vorstellung, echte Tatorte zu besichtigen, war sicherlich verlockend.
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