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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Noch verlockender war allerdings die Möglichkeit, den Sommer über wegzufahren.
    Ein Sommerurlaub. Andere Menschen machten auch Ferien. Scarlet beispielsweise hatte schon mehrmals an einem Theaterworkshop in Pennsylvania teilgenommen. Ich verbrachte den Sommer immer zu Hause, passte auf meinen Bruder, meine Schwester und Nana auf. Und ich wusste, dass Win dieses Jahr nichts anderes vorhatte, als Bewerbungsschreiben an Colleges zu schicken. Es gab schlimmere Methoden, die Sommerferien herumzukriegen, als mit meinem Freund abzuhängen, vorausgesetzt, ich hatte ihn dann noch.
    »Ich kann nicht«, sagte ich schließlich.
    »Damit habe ich gerechnet.« Dr. Lau nickte. »Ich weiß ein wenig über Ihre Lebensumstände und habe ein Gegenargument vorbereitet. Möchten Sie es hören?«
    Ich nickte.
    »Dann werde ich kein Blatt vor den Mund nehmen. Ihre Großmutter ist tot, Sie müssen also nicht mehr auf sie aufpassen. Höchstwahrscheinlich wird Nataliya an dem Hochbegabten-Lager mit Miss Bellevoir teilnehmen –«
    Ich unterbrach sie: »Woher wissen Sie das denn?«
    »Lehrer reden miteinander, ja? Ihr Bruder Leonyd mag zwar leicht geistig eingeschränkt sein, aber er ist erwachsen, und sie können nicht ewig auf ihn aufpassen. Wenn überhaupt, wäre ein Sommerurlaub eine gute Vorbereitung auf Ihre unvermeidliche Trennung von ihm.« Sie hielt inne und wartete auf meine Reaktion. Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. »Ihr unbewegtes Gesicht wird Ihnen als Kriminologin von Nutzen sein, Anya. Mein letztes Argument ist, dass Sie für den Kurs ja noch gar nicht angenommen sind. Auch wenn ich sicherlich ein begeistertes Empfehlungsschreiben für Sie aufsetzen werde, werden nur hundert Schüler zu diesem Kurs zugelassen, und Sie haben einen kleinen Nachteil, weil sie bisher nur zwei Jahre Rechtsmedizin absolviert haben. Anders ausgedrückt: Sie können sich ruhig jetzt bewerben und dann später entscheiden.«
    Das alles klang durchdacht und einleuchtend. »Danke«, sagte ich.

    Ich schob meine Bewerbung bis zum letzten Sonntag der Osterferien vor mir her. Was mich am meisten aufhielt, war der Aufsatz. Man konnte aus fünf Themen wählen. Nach langer Überlegung entschied ich mich für die fünfte Frage: Welche Bedeutung hat die Rechtsmedizin für Ihr Leben? Das Schreiben fiel mir nicht leicht. Das Thema war wirklich unheimlich persönlich. Ich schilderte, dass mein Vater ermordet worden war und die Polizei bei der Untersuchung des Tatorts nicht sorgfältig vorgegangen war, weil man meinen Vater für einen Verbrecher hielt. Und auch wenn es zutraf, dass er kriminell gewesen war, so war er doch für andere ein Vater und Sohn gewesen. Ich schrieb, dass alle Menschen, egal wie ihr Hintergrund aussah und wie eindeutig die Umstände ihres Verbrechens wirkten, eine gründliche Untersuchung verdient hatten. Dass man den Überlebenden mehr noch als den Opfern den inneren Frieden schuldig war, die genauen Umstände zu erfahren, damit sie wieder zu ihrem Leben zurückkehren konnten. Rechtsmediziner waren nicht einfach Wissenschaftler für die Toten, sondern Priester und Therapeuten für die Überlebenden.
    Dann zahlte ich das Porto, drückte auf »Senden« und hatte zumindest im Moment nicht das Gefühl, jemanden verraten zu haben.
    Das Telefon klingelte. Ich dachte, es sei Win, doch es stellte sich heraus, dass Mr. Kipling dran war. Er sagte, er hätte Neuigkeiten für Leo. Die Tierklinik, in der mein Bruder gearbeitet hatte, habe nun endlich die Vorwürfe der mangelnden Hygiene beseitigt und würde am ersten Juni wiedereröffnen. »Ich weiß zwar immer noch nicht, wer der Behörde das damals gesteckt hat«, sagte Mr. Kipling, »aber das ist doch eine gute Nachricht, oder?«
    »Sie haben ja keine Ahnung!«, rief ich. Ich erzählte ihm von meiner Bewerbung für den Tatortkurs im Sommer und von Nattys Zulassung fürs Hochbegabten-Lager und fügte hinzu, dass ich mich viel besser fühlen würde, wenn ich wüsste, dass Leo wieder in der Tierklinik arbeitete und nicht im Pool.
    »Ein Sommerurlaub würde dir guttun, Annie«, sagte Mr. Kipling. »Genau das Richtige, um das College deiner Wahl zu ergattern. Hast du schon darüber nachgedacht?«
    »Hm …«
    »Na, es ist ja noch ein bisschen Zeit. Und das Angebot, mit dir eine Collegetour zu machen, steht natürlich immer noch«, fügte er hinzu. »Vielleicht sogar auf dem Rückweg von deinem Sommerkurs?«
    »Mal sehen«, sagte ich.
    »Wie gesagt, die Klinik eröffnet erst im Sommer

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