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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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die Beliebtheit in Person. Ich werde von niemandem zu irgendwas eingeladen. Alle meinen, ich wäre diese … komische Theatertante. Oder die seltsame Freundin von Anya Balanchine. Ich bin ja vielleicht nicht die Schlauste, aber ich weiß, was geredet wird. Was kümmert dich das überhaupt? Du hast doch Win.«
    »Scarlet, du weißt, dass es nicht darum geht! Es geht darum« – worum ging es eigentlich? –, »es geht darum, dass wir hier über einen Typen reden, der einen Tag vor Schulbeginn praktisch versucht hat, mich zu vergewaltigen.«
    »Ich habe ihn danach gefragt. Er hat gesagt, du hättest das falsch verstanden –«
    »Ich habe nichts falsch verstanden!«
    »Hör mal kurz zu, ja? Er sagte, du hättest es falsch verstanden, aber nur ein bisschen. Er hätte mit dir schlafen wollen, aber er hätte dich niemals dazu gezwungen, selbst wenn Leo nicht aufgetaucht wäre. Er weiß so oder so, dass es falsch war. Er war im Unrecht. Er hätte an dem Abend nicht in dein Zimmer gehen sollen. Er hätte auch hinterher nicht die Sachen sagen sollen, die er gesagt hat. Er wusste, dass du eine gläubige Katholikin bist – so hat er sich ausgedrückt, Annie: eine gläubige Katholikin – und dass er dich niemals in diese Lage hätten bringen dürfen. Er weiß, dass er die Situation ausgenutzt hat. Er weiß das, Annie. Und es tut ihm leid. Wir haben stundenlang über das gesprochen, was zwischen euch vorgefallen ist. Ich hätte nicht mal in Erwägung gezogen, mit ihm zum Ball zu gehen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass es ihm wirklich aufrichtig leidtut.«
    »Er lügt, Scarlet. Er versucht, dich zu beeinflussen.« Ich bemühte mich, gleichmäßig zu atmen. Ich war gefährlich nah daran, etwas Gemeines zu Scarlet zu sagen oder etwas Unüberlegtes zu tun. Dabei war sie immer eine sehr gute Freundin gewesen, auch wenn sie mich jetzt irgendwie verriet.
    »Da ist noch eine Sache. Ich habe zwar versprochen, dir das nicht zu erzählen, aber seine Eltern wollten eure Familie wegen Gables Vergiftung anzeigen. Er hat es ihnen ausgeredet. Er sagte, es sei seine Schuld gewesen, weil er dich um die Schokolade gebeten hat. Er hat alle Schuld auf sich genommen und seinen Eltern gesagt, der Rest sei ein unglücklicher Zufall gewesen –«
    » Und ob es ein Zufall war! Wie edel von ihm zuzugeben, dass der Zufall ein Zufall war, Scarlet!«
    »Sicher, aber Gable hatte und hat einen Berg von Arztrechnungen zu bezahlen, also selbst wenn es seine eigene Gier war, die zu der Vergiftung führte –«
    Ich unterbrach sie. »Hör zu, Scarlet. Wenn du mit Gable Arsley zum Abschlussball gehst, können wir keine Freundinnen mehr sein.«
    Sie schüttelte den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Gable hat mich gewarnt, dass du das sagen würdest, aber ich habe gedacht, er irrt sich. Du hast ein schweres Leben, Annie, aber du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der leidet. Auch Gable hat gelitten. Du musst einfach nur die Augen aufmachen und ihn ansehen, um zu erkennen, wie sehr er gelitten hat.« Sie holte tief Luft. »Menschen ändern sich.«
    »Gable Arsley hat sich nicht geändert.«
    »Ich meinte damit mich. Ich hab dich lieb, Annie. Ich mag deine ganze Familie. Ich habe Leo und Natty lieb und würde alles für dich tun, aber zur Abwechslung möchte ich jetzt auch mal an mich denken.«
    »Du meinst, du tust etwas für dich, wenn du mit dem Krüppel zum Abschlussball gehst?«, sagte ich gehässig. »Vielleicht hast du deinen Anspruch ein bisschen zu tief runtergeschraubt, Scarlet.«
    »Diese Bemerkung ist unter deiner Würde«, sagte sie. Sie nahm ihre Schultasche und verließ die Umkleidekabine.
    Ich nutzte meinen letzten Vierteldollar, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich fühlte mich, als könnte ich jemanden umbringen.
    Ich ging in den Speisesaal. Scarlet musste bereits in der Schlange stehen. Ich konnte Win nicht entdecken, doch auf der anderen Seite erblickte ich Gable Arsley.
    Von da an lief alles in Zeitlupe ab.
    Ich rannte auf ihn zu.
    Von einem der Tische nahm ich ein Tablett.
    »He! Das ist mein Essen!«, rief Chai Pinter, doch ich hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne.
    Mit dem Tablett in der Hand stürzte ich auf Gable zu, rote Soße spritzte in alle Richtungen.
    Dann stand ich direkt vor ihm. Gerade wollte ich ihm die Lasagne über den Kopf kippen, als ich sein Gesicht sah. Wie vernarbt es war. Die sonderbare rosa Färbung des Transplantats. Und weiter unten die fehlenden Finger, die, wenn sie da gewesen wären,

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