Bitterzart
auf den fehlenden Fuß gezeigt hätten.
Ich spürte Wins Hand auf meinem Arm.
Und dann war Scarlet ebenfalls da. »Anya, lass ihn in Ruhe! Bitte! Du hast keine Ahnung, was er für Schmerzen hat.«
»Psst«, machte Gable zu Scarlet. »Schon gut.«
Ich stellte das Tablett vor ihn auf den Tisch.
Dann beugte ich mich vor. So nah war ich Gable nicht mehr gewesen seit dem Nachmittag in der Reha. Meine Wange streifte seine, als ich ihm ins Ohr flüsterte: »Scarlet kannst du vielleicht was vormachen, aber wir beide kennen uns schon zu lange, Gable. Wenn irgendwas mit ihr passiert, hast du die längste Zeit gelebt. Du weißt, wer meine Familie ist und wozu sie fähig ist.«
»Ich dachte, du würdest mir wieder die Lasagne über den Kopf kippen«, scherzte Gable. »So wie früher.«
Ich antwortete nicht. Ich würde mich nicht zu Gable und Scarlet setzen. Auch nicht mit ihnen sprechen. Stattdessen nahm ich Chai Pinters Tablett und brachte es ihr zurück.
»’tschuldigung«, sagte ich.
»Oh, läuft da was zwischen Gable und Scarlet?«, fragte Chai. »Bist du deswegen sauer?«
Ich ging davon, ohne ihr zu antworten, und setzte mich an einen Tisch, der so weit wie möglich von Gable entfernt war. Win nahm mir gegenüber Platz. Er holte eine Apfelsine aus der Tasche und begann sie zu pellen.
»Wusstest du das?«, fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. »Nicht mit Sicherheit. Ich dachte mir irgendwie, da könnte was sein, aber … ich … eigentlich dachte ich, sie wären einfach nur befreundet.«
»Das behauptet Scarlet auch, aber trotzdem. Es geht ums Prinzip. Sie will mit ihm zum Abschlussball gehen. Ist das nicht vollkommen absurd?«
Win löste einen Teil der Apfelsinenspalten für mich ab. »Der Abschlussball als solcher ist irgendwie absurd, Annie. Die Smokings, die Ballkleider. Die Bowle. Ich verstehe nicht, warum es absurder als sonst sein soll, wenn Scarlet mit Gable hingeht.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Auf deiner«, erwiderte Win. »Aber auch auf ihrer«, fügte er seufzend hinzu. »Eine der besten Eigenschaften deiner Freundin Scarlet ist ihr Mitgefühl. Niemand an unserer gesamten Schule mag Gable Arsley, Annie. Jeder einzelne von seinen alten Freunden hat ihn im Stich gelassen. Wenn wir nicht mit ihm mittaggegessen hätten, würde er allein dasitzen. Das weißt du auch. Deshalb drängt sich mir der Gedanke auf: Wenn Scarlet es fertigbringt, nett zu Gable Arsley zu sein, wer sind wir dann, ihr das vorzuhalten?«
»Aber sie hat mich verraten, Win. Wie soll ich ihr das jemals verzeihen?«
Win schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Annie. Sie ist zufällig die treueste Freundin, die du hast.«
Für einen Menschen, dessen Vater ein taffer Politiker ist, war Win unglaublich naiv. Daddy sagte immer: Andere sind so lange treu, bis sie dich verraten. Von da an kannst du ihnen nicht mehr trauen.
»Das heißt also, wir gehen nicht als Kleeblatt zum Ball?«, scherzte Win.
»Ich glaube, theoretisch ist es noch zu früh für so einen Witz«, gab ich zurück. »Außerdem habe ich noch nicht zugesagt, mit dir hinzugehen.« Ich war verärgert, dass er meinen Plan vereitelt hatte, ihn einzuladen.
»Wirst du aber«, sagte er. »Ich bin nämlich der einzige Freund, den du noch hast.«
Ich warf mit einer Apfelsinenspalte nach ihm.
Mitten in Mr. Weirs Unterricht wurde ich zur Rektorin gerufen. Ich nahm an, es hätte mal wieder mit meinem Benehmen in der Mittagspause zu tun. Entweder hatte mich irgendjemand gemeldet, weil ich wie eine Wahnsinnige durch den Speisesaal gelaufen war (Chai Pinter vielleicht? Oder Scarlet? Wer weiß, wozu sie plötzlich fähig war?), oder aber Gable selbst hatte ausgeplaudert, welche Drohungen ich ihm ins Ohr geflüstert hatte. So oder so war es ärgerlich. Ich hatte niemandem was getan. Angesichts der Umstände, fand ich, hatte ich mich beachtlich zusammengerissen. »Sie warten schon«, sagte die Schulsekretärin, als ich eintrat.
Wen sie damit wohl meinte, fragte ich mich.
Zwei Polizeibeamte saßen vor dem Schreibtisch der Rektorin. Die Frau erkannte ich vom letzten Herbst wieder, als ich festgenommen worden war. Das schien mir etwas übertrieben für den Zwischenfall in der Mittagspause. Man konnte mich kaum verhaften, weil ich mit einem Tablett durch den Speisesaal gelaufen war, das nicht mir gehörte. Oder doch?
»Hallo, Anya«, sagte die Rektorin. »Setzen Sie sich!«
Ich blieb stehen.
»Detective Frappe«, grüßte ich die
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