Bitterzart
wurde, damit es nicht so aussah, als wären wir unbeaufsichtigt. Doch in Wirklichkeit taten wir nichts anderes, als darauf zu warten, dass Leo Kontakt zu uns aufnahm.
Ich hatte Angst, dass er tot war. Dass Mickey ihn angeschossen hatte und Leo in irgendeiner Gasse verblutete. Es gab keinerlei Möglichkeiten für mich zu erfahren, was genau passiert war, weil ich niemanden aus der Familie ansprechen konnte. Das war zu gefährlich. Ich fühlte mich isoliert. Scarlet fehlte mir. Und ich hielt es auch für keine gute Idee, dass Win mich besuchte.
Am Freitag nach unserem Streit kam Scarlet auf mich zu. »Das mit Leo tut mir so leid«, sagte sie.
Ich ignorierte sie. Ich wollte gerne mit ihr sprechen, konnte aber nicht. Als Vertraute hielt ich sie für voreingenommen. Schließlich sprach sie mit Gable Arsley über mich. Und wer wusste schon, wem er es wiederum erzählen würde?
Ich ging in meinen Unterricht, doch das einzige Thema, das mich beschäftigte, war der Grund, warum Leo es getan hatte. Ich weiß, dass er Mickey geschlagen hatte, weil er glaubte, Mickey hätte etwas mit Nanas Tod zu tun. Hatte es Leo auf Mickey abgesehen und versehentlich auf Yuri geschossen? Ich wusste, dass Jacks einige Antworten haben mochte, aber mich mit ihm in Verbindung zu setzen, kam momentan einfach nicht in Frage.
Ich quälte mich mit Grübeleien, was ich alles hätte tun können, um diese Entwicklung der Ereignisse zu verhindern. Ich hätte herausfinden müssen, was mit Daddys Waffe geschehen war. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass Leo im Pool arbeitete. Niemals hätte ich Leo den Gedanken in den Kopf setzen dürfen, dass Nana ermordet worden war. (Er war so beeinflussbar. Herrgott nochmal, natürlich war sie nicht ermordet worden! Sie war ja schon halbtot, bevor sie starb.) Ich hätte ihm nicht von dem Ferienkurs erzählen sollen. Ich hätte ihm nicht so viel Druck machen dürfen, weil er nun unser Vormund war. Ich hätte mich nicht von Win ablenken lassen dürfen. Ich hätte Leo aktiver von der Beziehung zu Jacks abhalten sollen. Diese Vorwürfe und andere machte ich mir unablässig. Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass alles mein Fehler war und ich meinen Vater im Stich gelassen hatte.
Anstatt am Montagmorgen zu Dr. Laus Unterricht zu gehen, begab ich mich zum Beten in die Kapelle. Ich konnte mich eh nicht konzentrieren. Zu viele Gedanken jagten durch meinen Kopf.
Ich saß in einer Bank und bekreuzigte mich.
»Annie!«, hörte ich eine Stimme raunen. Ich sah mich um. Es schien niemand da zu sein.
»In der Mitte«, rief die Stimme.
Ich lief bis zur Mitte des Ganges und setzte mich in eine andere Bank. Dort auf dem Boden lag Leo. Obwohl ich ihn gerne in die Arme genommen hätte, rührte ich mich nicht. Ich richtete den Blick auf Jesus am Kreuz und versuchte Ruhe zu bewahren.
»Ich warte schon lange auf dich«, sagte Leo. »Du betest nicht mehr so oft wie früher. Eine Schule ist ein gutes Versteck. Nachts finde ich in der Küche etwas zu essen. Tagsüber bleibe ich den ganzen Tag in der Kapelle. Hier kommt keiner hin, und wenn doch, denkt man, ich würde eine Stunde schwänzen. Wenn Gottesdienst ist, gehe ich in den Theatersaal. Einmal habe ich gesehen, dass Scarlet Gable Arsley geküsst hat. Wusstest du, dass sie zusammen sind? Jetzt mag ich sie gar nicht mehr so gern. Ich hab gewusst, dass alle dachten, ich würde nach Hause laufen, deshalb bin ich hierhergekommen.«
Ich hätte am liebsten geweint. »Ach, Leo, das war sehr schlau von dir, aber du kannst hier nicht bleiben. Irgendwann wird dich jemand sehen. Und dann …«
»Puff! Bin ich tot«, sagte er fast fröhlich. Er zog die Waffe auf dem Hosenbund. Daddys Smith & Wesson, wie Mickey behauptet hatte. Ich widerstand dem Impuls, sie ihm wegzunehmen. Wenn die Balanchines in der Schule auftauchten, musste er die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen.
»Warum hast du es getan, Leo?«
»Aus hunderttausendmillionen Gründen.« Er seufzte. »Weil ich der Sohn von Leonyd Balanchine und das rechtmäßige Oberhaupt der Familie bin«, erklärte er. »Yuri ist alt, und er sorgt dafür, dass Mickey das nächste Oberhaupt wird. Er versucht, mir mein …« Leo suchte nach dem richtigen Wort. »… mir mein Geburtsrecht zu nehmen.
Außerdem ist Mickey böse. Er hat die Schokolade mit Fre… Fre… Fre…, also vergiftet, damit sein Vater schwach dasteht und er schneller das Oberhaupt werden kann –«
»Moment mal, woher willst du wissen, dass Mickey
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