Bitterzart
ich.
»Ja, Anya. Das ist meine Ausgehmütze.« Es klang ein wenig selbstironisch, doch er beugte sich mir leicht entgegen, als er es sagte. Er roch waldig und sauber.
»Gut, Natty«, sagte ich. »Dann biete dem frühen Vogel was zu trinken an.« Ich wollte zu meinem Zimmer gehen.
»Deine Augenbrauen sehen übrigens super aus«, rief er. »So wie sie jetzt sind, meine ich.«
Es klingelte erneut. Scarlet.
»Heute kommen anscheinend alle zu früh«, bemerkte Win.
»Nein«, beeilte sich Natty zu sagen. »Scarlet sollte ja früher hier sein.«
»Ach ja?«, fragte Win. »Na, das ist ja interessant.«
Ich ignorierte ihn und ging zur Tür.
Scarlet hauchte mir einen Kuss auf die Wange, um keine Spur von Lippenstift zu hinterlassen. Ihr Outfit war typisch für sie: ein schwarzes Spitzenkorsett, eine Herrenhose und dick aufgetragener roter Lippenstift, ihr Markenzeichen. Außerdem war es ihr irgendwie gelungen, eine weiße Lilie für ihr blondes Haar zu besorgen.
»Die Blüte riecht unglaublich«, sagte ich zu ihr, dann flüsterte ich: »Er ist schon da. Hat sich mit der Zeit vertan oder so.«
»Ach, das ist doch wirklich ärgerlich«, sagte Scarlet. Sie verstaute ihre Reisetasche im Wandschrank, setzte ein Lächeln auf und ging ins Wohnzimmer. »Hi, Win! Tolle Mütze, Natty.«
Ich ging in mein Zimmer, um etwas anderes anzuziehen als den alten Bademantel. Nana hatte mir mal erzählt, die Art, wie wir uns heute kleideten, hätte man zu ihrer Zeit Vintage genannt. Schon vor zehn Jahren war jegliche Textilproduktion eingestellt worden; eine Kleidermixtur wie für den Look von Scarlet erforderte viel Aufwand und Planung. Anders als meine beste Freundin hatte ich noch keinen Gedanken an meine Aufmachung für den Abend verschwendet. Ich schlüpfte in ein altes Kleid meiner Mutter – roter Jersey, kurz und schwingend, doch mit einem züchtigen Ausschnitt. Es hatte ein Loch in der Achselhöhle, doch ich hatte ohnehin nicht vor, ständig den Arm zu heben. Als ich zurück ins Wohnzimmer ging, klopfte ich an Leos Tür, um mich zu verabschieden und zu vergewissern, dass zwischen uns alles aus dem Weg geräumt war. Er antwortete nicht, deshalb schob ich die Tür ein wenig auf. Die Lichter waren gelöscht, er lag unter der Bettdecke. Vorsichtig schloss ich die Tür wieder und ging zu meinen Freunden.
»Oh!«, sagte Natty, als sie mich erblickte. »Du siehst hübsch aus!«
Scarlet pfiff anerkennend, und Win salutierte.
»Hört auf damit. Das ist mir peinlich«, sagte ich, obwohl ich, wenn ich ehrlich war, ihre Komplimente genoss. »Wir können jetzt gerne ins Little Egypt gehen.«
Win zog meiner Schwester die Mütze vom Kopf, dann machten wir uns auf den Weg.
Es waren nur fünf Minuten zu Fuß bis zum Club, aber wegen Scarlets Schuhen dauerte es doppelt so lange; sie trug Stilettos, die sich nicht besonders zum Laufen eigneten. Als wir beim Little Egypt ankamen, reichte die Schlange vorm Eingang über die gesamte lange Marmortreppe hinweg, die in das große Gebäude führte Der Laden war so gut wie der einzige, den man in diesem Teil der Stadt besuchen konnte.
Scarlet winkte den Türsteher zu uns. »Können meine Freunde und ich bitte rein? Bitte, bitte!«
»Was bekomme ich, wenn ich dich reinlasse, Blondie?«, wollte der Türsteher wissen.
»Meine ewige Dankbarkeit«, erwiderte Scarlet.
»Hinten anstellen«, sagte er. Wir wollten gerade wieder die Treppe hinuntergehen, als der Türsteher rief: »He, du im roten Kleid!« Ich drehte mich um. »Annie, oder?«
Ich verzog das Gesicht. »Wer will das wissen?«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich habe für deinen Vater gearbeitet. Guter Mann.« Er hakte das samtene Seil aus, winkte uns drei durch, griff in seine Tasche und drückte mir mehrere Getränkegutscheine in die Hand. »Auf den alten Mann, ja?«
Ich nickte. »Danke.« So etwas kam ziemlich häufig vor, trotzdem war es nett. Mein Vater hatte viele Feinde gehabt, aber noch mehr Freunde.
»Seid vorsichtig da drin«, warnte der Türsteher. »Ist heute die Hölle los.«
Die Theke befand sich unter einem Schild mit der Aufschrift INFORMATION. Auf einem weiteren Schild an der Theke waren die Eintrittspreise aus der Zeit aufgelistet, als Little Egypt noch ein Museum war. Wir tauschten unsere Gutscheine gegen Bier ein. Es gab nur eine Sorte, die auch nicht besonders lecker war: eine sprudelnde, senfgelbe Plörre. Warum wurde für so einen Dreck einwandfreies Wasser verschwendet? »Cheers!«, sagte Scarlet.
»Was
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