Bitterzart
Kopf, damit Nana wusste, dass ich unsere Familienangelegenheiten nicht in Gegenwart der Pflegerin besprechen wollte.
»Ich gehe mal besser.« Imogen packte ihr Buch in die Tasche. Ihr Arbeitstag war eh vorbei. »Leo hast du ja wohl gefunden«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich mit einem halben Lachen. »Im Flur.«
»Da guckt man immer als Letztes nach«, sagte Imogen. »Pass auf dich auf, Anya. Schlaf gut, Galina.«
Nachdem Imogen die Tür geschlossen hatte, erzählte ich Nana, wo Leo gewesen war und welches Angebot man ihm gemacht hatte. »Und, was hältst du davon?«, fragte ich.
Nana lachte, dann musste sie husten. Ich goss ihr Wasser ein und hielt ihr den Strohhalm an die Lippen. Einige Tropfen rollten auf die bordeauxrote Seidendecke, in meinen Augen sahen sie fast aus wie Blutstropfen. Ich wiederholte meine Frage: »Was hältst du davon?«
»Tja«, sagte meine Großmutter mit ihrer trockenen Stimme. »Ich sehe schon, was du denkst. Deine Nasenlöcher sind so groß wie die Nüstern eines Rennpferdes, deine Augen sind blutunterlaufen wie die eines Trinkers. Du darfst nicht zulassen, dass dein Gesicht so viel von deinen Gefühlen verrät. Das ist eine Schwäche, mein Schatz.«
»Und?«, hakte ich nach.
»Pah«, sagte sie.
»Pah?«
»Pah. Jacks gehört zur Familie. Leo hat keine Arbeit. In der Familie kümmert man sich umeinander. Pah.«
»Aber Leo …«
»Nichts aber! Es ist nicht immer alles eine Verschwörung. Das musste ich deinem Vater auch ständig sagen.«
Ich beschloss, mir den Hinweis zu verkneifen, dass Daddy zu Recht etwas paranoid gewesen war. Immerhin war er in seinem eigenen Haus erschossen worden.
Nana war noch nicht fertig. »Ist doch schön, dass sich jemand für deinen Bruder interessiert. Denn aus Sicht des Clans ist dein Bruder eine arme Sau, ein Nichts. Wie eine Frau oder ein Kind. Niemand würde sich mit ihm abgeben.«
Und doch engagierte sich Jacks aus irgendeinem Grund für Leo.
»Anya! Ich sehe deine gerunzelte Stirn. Ich wollte damit nur sagen, dass schon niemand deinen Bruder erschießen oder ihm Ärger machen wird. Das wäre nicht ehrenhaft. Die Männer vom Pool waren früher die Offiziere und Fußsoldaten deines Vaters. Und eine der besten Eigenschaften deines Vaters – Gott sei seiner Seele gnädig – war, dass er sich um seine Leute kümmerte. Sie liebten deinen Vater, sie achteten ihn im Leben und tun ihr Möglichstes, ihn auch im Tod zu ehren. Aus genau diesem Grund hat Jacks eine Arbeit für deinen Bruder besorgt. Das verstehst du doch, oder?«
Ich entspannte meine Gesichtsmuskeln.
»Braves Mädchen«, sagte sie und tätschelte meine Hand.
»Sollte ich vielleicht wenigstens mal mit Jacks reden?«, schlug ich vor. »Um sicherzugehen, dass alles seine Richtigkeit hat?«
Nana schüttelte den Kopf. »Lass es ein. Wenn du das machst, ist das nur peinlich für Leo. Er verliert sein Gesicht vor den anderen Männern. Und außerdem ist Piroschki selbst ein Niemand und stellt für keinen eine Bedrohung dar.«
Da hatte sie recht. »Ich werde Leo beim Abendessen ausrichten, du hättest gesagt, er solle das Angebot annehmen«, sagte ich.
Nana schüttelte den Kopf. »In zwei Jahren bist du auf dem College und ich bin …«
»Sag es nicht!«, rief ich.
»Gut, mein Schatz, wie du willst. Dann bin ich halt woanders. Worauf ich hinauswill: Ist es nicht am besten, wenn du Leo zu seinen eigenen Schlüssen kommen lässt, Anyeschka? Lass ihn ein Mann sein, mein Spatz. Gesteh ihm das zu.«
Als Friedensangebot kochte ich zum zweiten Mal in dieser Woche Makkaroni mit Käse. Ich sagte Natty, sie solle Leo holen, doch er wollte nicht zum Essen kommen. Ich brachte ihm seinen Teller an die Tür. »Leo, du musst doch was essen«, sagte ich.
»Bist du böse?«, flüsterte er. Ich konnte ihn durch die Tür kaum hören.
»Nein, ich bin nicht sauer. Ich bin nie böse auf dich. Ich hab mir nur Sorgen gemacht.«
Leo öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Tut mir leid«, sagte er. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hab dich geschubst.«
Ich nickte. »Schon gut. War nicht so schlimm.«
Leo kniff Mund und Augen zusammen, um nicht zu weinen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm über den Rücken zu streicheln. »Guck mal, ich hab dir Makkaroni gebracht.«
Er lächelte schwach. Ich gab ihm den Teller, und er schaufelte sich die gelben Röhrennudeln in den Mund. »Wenn du es nicht willst, gehe ich nicht im Pool arbeiten.«
»Ehrlich gesagt, kann ich dich nicht aufhalten,
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