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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Sie ihr, dass sie rund um die Uhr in unserer Wohnung bleiben muss. Sagen Sie ihr, dass wir die Überstunden anderthalbfach vergüten.«
    Simon Green nickte.
    »Müssen Sie das nicht mitschreiben?«, fragte ich. Diesem Mann traute ich überhaupt nichts mehr zu.
    »Ich nehme es auf«, sagte er und zog einen Apparat aus der Tasche. »Bitte sprechen Sie weiter.«
    Daddy hätte sich niemals auf mitgeschnittene Gespräche eingelassen, aber es war jetzt keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. »Scarlet Barber geht mit meiner Schwester und mir zur Schule. Sagen Sie ihr, dass sie Natty auf dem Schulweg begleiten soll.«
    »Ja«, sagte er.
    »Außerdem müssen Sie meinen Bruder Leo anrufen. Sagen Sie ihm, dass er die Stelle im Pool nicht annehmen soll, weil er zu Hause auf alle aufpassen muss. Ich glaube nicht, dass er Streit anfängt, aber wenn doch, sagen Sie ihm …« Die Staatsanwältin und eine Sozialarbeiterin kamen auf mich zu, ich verlor den Faden. Es war nicht mehr viel Zeit.
    »Ja?«
    »Keine Ahnung. Denken Sie sich irgendwas aus, das plausibel klingt.«
    »Ja, das schaffe ich«, sagte Simon Green.
    Die Sozialarbeiterin trat auf mich zu. »Ich bin Mrs. Cobrawick«, stellte sie sich vor. »Ich werde Sie nach Liberty bringen.«
    »Lustiger Name für ein Gefängnis«, versuchte ich zu scherzen.
    »Das ist kein Gefängnis. Nur ein Ort für Kinder, die Probleme haben. Kinder wie Sie.«
    Mrs. Cobrawick gehörte zu den durch und durch ernsten Menschen. »Ja, natürlich«, sagte ich. Ins Gefängnis würde ich später kommen, wenn ich als Erwachsene verurteilt wäre und wenn es mir nicht gelingen sollte, vom Vorwurf der Vergiftung freigesprochen zu werden. Ich nickte Simon Green zu. »Ich höre von Ihnen?«
    »Ja«, versicherte er mir. »Ich besuche Sie am Wochenende.«
    Ich sah ihm nach. »Mr. Green!«, rief ich.
    Er drehte sich um.
    »Sagen Sie Mr. Kipling bitte, ich wünsche ihm gute Besserung!«
    Und dann geschah es. Meine Stimme brach bei dem Wort Besserung , und ich musste weinen. Eigentlich konnte mich nichts aus der Fassung bringen, doch irgendwie machte mich der Gedanke an Mr. Kipling im Krankenhaus einsamer, als ich mich je in meinem ganzen Leben gefühlt hatte.
    »Na, na«, sagte Mrs. Cobrawick. »So schlimm wird es schon nicht werden in Liberty.«
    »Das ist es ja nicht – «, begann ich, überlegte es mir dann jedoch anders. Zumindest hatte ich meine Schwäche nicht in Gegenwart von Menschen, die ich kannte, zur Schau gestellt.
    »Ich habe festgestellt, dass die schwersten Fälle die meisten Tränen vergießen«, bemerkte Mrs. Cobrawick.
    Sollte diese Frau doch denken, was sie wollte. Daddy hatte immer gesagt, man erklärte nur den Menschen etwas, die einem auch wichtig waren.

VIII.
    Ich werde nach Liberty geschickt und werde tätowiert!
    Mrs. Cobrawick und ich fuhren mit der Fähre zur Jugendeinrichtung Liberty. Der Blick vom Schiff ermutigte mich nicht unbedingt: Mehrere niedrige, bunkerähnliche graue Betongebäude mit wenigen Fenstern umgaben einen Hof mit einem Denkmal. Man sah zwei riesengroße grünliche Frauenfüße in Sandalen und den unteren Teil eines Rocks, beides, wie ich vermutete, aus Kupfer gegossen. Ich glaube, mein Vater hatte mir einmal die Geschichte des Standbildes erzählt und was mit dem Rest der Statue geschehen war (Kupferdiebe oder so was?), doch sie fiel mir im Moment nicht ein, und die Frau ohne Oberkörper machte einen unheilvollen Eindruck auf mich. Auf dem Sockel des Standbilds war eine Inschrift, ich konnte nur die Worte »müde« und »frei« ausmachen. Ich war Ersteres, nicht Letzteres. Die gesamte Insel war von einem Maschendrahtzaun umgeben, der unter Strom gesetzt war, wie ich an den gewundenen Drähten obenauf erkannte. Ich redete mir ein, ich würde nicht lange dort bleiben.
    »Als meine Mutter klein war, war Liberty Island ein Ausflugsziel für Touristen«, teilte mir Mrs. Cobrawick mit. »Man konnte im Kleid der Frau hochsteigen, und unten drin war ein Museum.«
    Wo bitte war mal kein Museum gewesen? Die Hälfte der Gebäude in meiner Gegend waren früher Museen.
    »Was Sie da eben im Gericht gesagt haben … Liberty ist kein Gefängnis«, fuhr Mrs. Cobrawick fort. »Sie sollten es auch nicht als solches betrachten. Wir sind sehr stolz auf Liberty und stellen es uns gern als Heim vor.«
    Ich wusste, dass ich mir besser auf die Zunge gebissen hätte, aber ich konnte einfach nicht den Mund halten und fragte: »Wofür ist dann der elektrische Zaun?«
    Mrs.

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