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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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wohl zum Entlausen gedacht war. Abgeschlossen wurde die Prozedur von zehn Spritzen. Dr. Henchen sagte, sie seien in erster Linie zum Schutz vor Grippe und Geschlechtskrankheiten und zu meiner Entspannung, doch zu dem Zeitpunkt war ich mit den Gedanken bereits woanders. Das konnte ich schon immer: den Kopf von den schrecklichen Dingen abkoppeln, die um mich herum geschahen.
    Was auch immer sie mir injizierten, es musste mich total ausgeknockt haben, da ich erst am nächsten Morgen auf der oberen Matratze eines stählernen Etagenbetts in einem sehr schlichten Mädchenschlafsaal erwachte. Mir tat der Arm weh, in den ich die Spritzen bekommen hatte. Meine Haut war rau. Mein Magen leer. Mein Kopf schwammig. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wie ich hergekommen war.
    Die anderen Insassen (oder welchen Fachausdruck Mrs. Cobrawick sonst für uns ersonnen hatte) schliefen noch. Es gab schmale Fenster – kaum mehr als Schlitze – an den Seiten des Raums, und ich konnte draußen die morgendliche Dämmerung ausmachen. Von den vielen Dingen, die mich beschäftigten, galt meine dringendste Sorge dem Frühstück und seiner Zusammensetzung.
    Ich richtete mich im Bett auf und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich Kleidung trug. Ich konnte mich noch erinnern, ausgezogen worden zu sein. Über die Kleidung war ich froh. Ein marineblauer Baumwollanzug – nicht gerade schick, aber besser als gar nichts. Beim Aufsetzen bemerkte ich einen sonderbaren Schmerz am rechten Fußgelenk, fast wie der Biss einer Feuerameise. Ich schaute hin und entdeckte, dass ich tätowiert worden war. Ein winziger Strichcode, mit dem ich vermutlich erkennungsdienstlich erfasst worden war (Das war gängige Praxis. Daddy hatte auch eine Tätowierung gehabt.)
    Eine Sirene schrillte, und im Raum brach Chaos aus. Eine Horde von Mädchen stürzte zur Tür. Ich stieg aus dem Bett und überlegte, ob ich ihnen folgen sollte oder nicht. Mir fiel auf, dass das Mädchen im Bett unter mir sich nicht an dem Aufruhr beteiligte, und ich fragte sie, was los sei.
    Sie schüttelte den Kopf und schwieg. Dann hielt sie mir einen Notizblock hin. Er hing an einer Lederschnur um ihren Hals. Auf der ersten Seite stand: Ich heiße Mouse. Ich bin stumm. Ich kann dich hören, aber muss meine Antwort schreiben.
    »Oh«, machte ich. »Tut mir leid.« Ich wusste eigentlich gar nicht, warum ich mich entschuldigte.
    Mouse zuckte mit den Schultern. Das Mädchen war wirklich klein und still, Mouse war ein treffender Name. Ich schätzte, dass sie ungefähr in Nattys Alter war, auch wenn sie durch ihre dunklen Augen älter wirkte.
    »Wo wollen die alle hin?«
    Duschen , schrieb sie. 1x pro Tag: 10 sec H2O. Alle zusammen.
    »Warum gehst du nicht mit?«
    Mouse zuckte mit den Schultern. Später sollte ich lernen, dass das ihre Allzweckwaffe zum Wechseln des Themas war, besonders nützlich, wenn ein Umstand zu komplex war, um prägnant formuliert zu werden. Sie ließ den Notizblock fallen und hielt mir ihre Hand entgegen, die ich daraufhin schüttelte.
    »Ich bin Anya«, sagte ich.
    Mouse nickte und griff zu ihrem Block. Ich weiß , schrieb sie.
    »Woher?«, fragte ich.
    Aus den Nachrichten. Sie hielt den Block hoch, dann schrieb sie weiter: Mafiatochter vergiftet Freund mit Schokolade .
    Na, super. »Exfreund«, korrigierte ich. »Welches Foto haben sie von mir abgedruckt?«
    Schuluniform , schrieb Mouse.
    Ich trug Schuluniformen, seitdem ich zur Schule ging.
    Vor kurzem aufgenommen , fügte sie hinzu.
    »Ich bin übrigens unschuldig«, bemerkte ich.
    Sie verdrehte ihre dunklen Augen. Sind hier alle , schrieb sie.
    »Du auch?«
    Ich nicht. Ich bin schuldig.
    Wir kannten uns noch nicht lange genug, als dass ich sie hätte fragen können, was sie getan hatte, deshalb wechselte ich das Thema und erkundigte mich nach etwas Dringlicherem. »Gibt’s hier irgendwo was zu essen?«
    Zum Frühstück gab es Haferbrei. Er war überraschend genießbar, oder ich hatte einfach sehr großen Hunger.
    Der Speisesaal in der Erziehungsanstalt hatte ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem auf meiner Highschool, das heißt, es gab eine Hierarchie der Plätze, wobei die einflussreicheren Cliquen die »besseren« Tische besetzten. Mouse schien zu keiner Gruppe zu gehören, da sie allein mit mir am – das muss man leider sagen – unattraktivsten Tisch im ganzen Saal aß: ganz weit hinten, so weit entfernt von den Fenstern, wie eben möglich, neben dem Müll. »Isst du jeden Tag hier hinten?«,

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