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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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fragte ich. 
    Mouse zuckte mit den Schultern.
    Sie war zwar stumm, machte aber sonst einen ganz normalen Eindruck auf mich. Ich fragte mich, weshalb sie allein war: aus eigenem Antrieb, weil die anderen sie wegen ihrer Behinderung ausschlossen oder weil sie, so wie ich, neu in Liberty war. »Wie lange bist du schon hier?«, frage ich.
    Sie legte ihren Löffel beiseite und schrieb: 198 hinter mir. 802 vor mir .
    »Tausend Tage Haft. Das ist eine lange Zeit«, sagte ich, obwohl das eine wirklich dämliche Bemerkung war. Ein Blick in Mouses Augen, und man wusste genau, wie lange tausend Tage waren.
    Ich wollte mich gerade entschuldigen, so etwas Dummes gesagt zu haben, als ein orangefarbenes Plastiktablett Mouse am Hinterkopf traf. Haferbrei spritzte ihr ins Haar und ins Gesicht.
    »Pass doch auf, Mouse!«, rief das Mädchen mit dem Tablett. Die sarkastische Stimme gehörte zu einer relativ großen und im wahrsten Sinne des Wortes auffälligen Insassin. Sie hatte langes, glattes schwarzes Haar. Neben ihr standen eine dickliche Blondine und ein zierliches, aber sehniges Mädchen mit kahlrasiertem Kopf. Der Kahlkopf hatte mehrere Tätowierungen anstelle von Haaren. Es waren Wörter, die sich in einem faszinierenden, paisleyartigen Muster über ihren Schädel zogen.
    »Was guckst du so?«, fragte der Kahlkopf.
    Ich guck mir deine unglaublichen Tattoos an , wollte ich sagen, entschied mich aber dagegen.
    (Übrigens: Man kann sich doch im Ernst keine Wörter auf den Kopf tätowieren lassen, ohne zu erwarten, dass sie jemand zu lesen versucht.)
    »Was ist, kleines Mäuschen? Hast du die Zunge verschluckt?«, fragte das Mädchen mit dem Tablett.
    Die Blondine sagte: »Sie kann dich nicht hören, Rinko. Sie ist doch taub.«
    »Nee, sie kann nur nicht reden. Das ist was anderes, Clover. Sei nicht so dumm«, sagte Rinko. Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht direkt vor Mouse war. »Sie kann das kleinste Wort hören, das wir sagen. Du könntest reden, wenn du nur wolltest, stimmt’s?«
    Mouse sagte natürlich nichts.
    »Oh, ich hab versucht, dich in die Falle zu locken«, fuhr Rinko fort. »Mit deiner blöden Zunge ist doch alles in Ordnung. Du willst bloß nicht mitmachen, stimmt’s? Hast deine eigene Meinung über uns, hältst dich für was Besseres, obwohl du in Wirklichkeit das Letzte vom Letzten bist.«
    »Babymörder«, zischte die Tätowierte.
    Mouse rührte sich nicht.
    »Willst du mir keinen Liebesbrief schreiben?«, sagte Rinko und zerrte an dem Block um Mouses Hals.
    »He!«, rief ich. Zum ersten Mal sahen die drei mich an. Ich setzte eine nettere Stimme auf und sagte: »Wie soll sie was für dich schreiben, wenn du den Block festhältst?«
    »Guck mal, Mouse hat eine hübsche neue Freundin«, sagte Rinko. Sie betrachtete mich. »He, ich kenne dich. Du solltest dich zu uns setzen.«
    »Mir geht’s gut hier, danke«, sagte ich.
    Rinko schüttelte den Kopf. »Hör mal, du hast noch keine Ahnung, wie es hier so läuft, deshalb tu ich mal so, als hätte ich das nicht gehört. Mouse ist nicht deine Freundin, und du wirst hier Freundinnen brauchen.«
    »Ich lasse es drauf ankommen«, sagte ich.
    Clover, das blonde Mädchen, wollte sich auf mich stürzen. Rinko winkte ab, Clover gehorchte. »Lass sie«, sagte Rinko. »Du und ich, wir werden noch beste Freundinnen«, sagte sie zu mir. »Das weißt du nur noch nicht.«
    Als Rinko mit ihrer Bande außer Hörweite war, schrieb Mouse etwas für mich auf: Sei nicht dumm! Du musst nichts für mich tun .
    »Stimmt«, sagte ich. »Aber ich kann es nicht leiden, wenn Leute schikaniert werden.«
    Mouse nickte.
    »Weißt du, auch wenn du klein bist, solltest du versuchen, dich zu verteidigen. Solche Leute picken sich immer welche raus, die sie für schwach halten.«
    Ihr Blick sagte mir, dass ich ihr nichts Neues erzählte.
    »Warum lässt du dir das dann gefallen?«
    Sie dachte kurz über meine Frage nach, dann schrieb sie: Weil ich es verdient habe .

    Unter der Woche gab es in Liberty Unterricht, am Samstag war Besuchstag. Ich hatte mehrere Besucher, aber die Vorschrift lautete, dass man immer nur einen zur selben Zeit empfangen durfte.
    Der erste Besucher war Simon Green. Ich fragte ihn, wie es Mr. Kipling gehe, worauf er erwiderte: »Er ist stabil.« Offenbar hing er noch am Beatmungsgerät und konnte keine Ratschläge erteilen. »Unglücklicherweise«, fügte Simon Green hinzu.
    Und es war ein Unglück. Ich machte mir Sorgen um Mr. Kipling, war aber genauso beunruhigt wegen mir

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