Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
Vom Netzwerk:
weinen.
    »Keine Sorge, Anya«, sagte Mr. Kipling. »Wir werden das Ganze schon regeln. Es gibt bestimmt eine einleuchtende Erklärung für alles.«
    Ich sah meinen Anwalt an. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Gesicht blass, fast ein wenig grün. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte ich.
    »Bin nur müde. War ein langer Tag. Jetzt mach dir keine Sorgen um mich. Versuch einfach, gut zu schlafen, so gut das auf einem Polizeirevier eben geht.«
    Er wies auf das Eisenbett mit der schmalen Matratze und der kratzigen Wolldecke.
    »Das Kopfkissen sieht gar nicht so übel aus«, sagte ich. Das tat es wirklich nicht. Es war überraschend gut gefüllt.
    »So ist es richtig«, sagte Mr. Kipling. Er schob die Hand durch die Stäbe und strich mir mit dem Zeigefinger über die Wange. »Wir sehen uns morgen, Annie. Im Gericht. Ich gehe jetzt bei dir zu Hause vorbei und gucke nach, ob Leo, Natty und Galina alles haben, was sie brauchen.«
    Die Polizisten hatten vergessen, mir meine platingoldene Kette mit dem Kreuz abzunehmen. Ich löste sie und reichte sie Mr. Kipling. Sie hatte meiner Mutter gehört; ich wollte nicht, dass ich sie hier irgendwie verlor oder mir klauen ließ. »Zum Aufbewahren«, sagte ich.
    »Ich bringe sie dir morgen wieder mit«, versprach er.
    »Danke, Mr. Kipling. Für alles.« Und damit meinte ich auch, dass er nicht mal gefragt hatte, ob ich unschuldig sei. Er ging einfach davon aus. Er dachte immer das Beste von mir. (Aber vielleicht war das auch einfach nur sein Job?)
    »Gern geschehen, Anya«, sagte er und ging.
    Dann war ich allein.
    Es war seltsam, allein zu sein. Zu Hause war immer jemand da, der meine Zeit oder Aufmerksamkeit verlangte.
    Ich hätte dieses Gefühl vielleicht sogar genossen, wenn ich nicht in einer Gefängniszelle gesessen hätte.

    Am nächsten Morgen fuhr mich ein Polizeibeamter ins Gericht. Obwohl ich nicht wusste, was mich dort erwartete, weiß ich noch genau, dass ich froh war, aus der Zelle heraus zu sein. Die Sonne schien, und während der Fahrt war ich sehr optimistisch. Vielleicht hatte Mr. Kipling ja doch recht. Vielleicht gab es eine einleuchtende Erklärung für alles. Vielleicht würde es nicht mehr als ein kleiner Urlaub von der Schule sein. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass ich einen Berg Arbeit nachholen musste.
    Als ich im Gericht eintraf, war Mr. Kipling nicht da. Normalerweise war er bei solchen Terminen immer überpünktlich, aber besonders besorgt war ich nicht.
    Frappe war im Gerichtssaal, dazu eine zweite Frau, die ich für die Staatsanwältin hielt. Um eine Minute nach neun trat die Richterin ein. »Ms. Balanchine?« Sie sah mich an, und ich nickte. »Wissen Sie, wo Ihr Anwalt ist?«
    »Mr. Kipling sagte, wir würden uns hier treffen. Vielleicht steckt er im Stau?«, schlug ich vor.
    »Ist Ihr Vormund anwesend?«, fragte die Richterin. »Ich habe gehört, dass Ihre Eltern tot sind. Könnte Ihr Vormund vielleicht Ihren Anwalt anrufen?«
    Ich erklärte ihr, dass meine Großmutter zwar mein Vormund sei, aber leider nicht das Bett verlassen könne.
    »Höchst unglücklich«, sagte die Richterin. »Ich nehme an, wir können auch ohne Anwalt fortfahren, aber da Sie noch minderjährig sind, würde ich das nur sehr ungern tun. Sollen wir den Termin verschieben?«
    In dem Augenblick betrat ein junger Mann, der nicht viel älter aussah als ich, den Gerichtssaal. Er trug einen Businessanzug. »Euer Ehren, bitte entschuldigen Sie meine Verspätung. Ich bin Mr. Kiplings Kollege. Mr. Kipling hatte einen Herzinfarkt und wird heute nicht zum Gericht kommen können. In seiner Abwesenheit werde ich Ms. Balanchine vertreten. Ich bin Simon Green.«
    Er kam an den Tisch und streckte mir die Hand hin. »Keine Sorge«, flüsterte er. »Das wird schon wieder. Ich bin nicht so jung, wie ich aussehe, und kenne mich mit kriminellen Themen sogar besser aus als Mr. Kipling.«
    »Wird Mr. Kipling denn wieder gesund?«, erkundigte ich mich.
    »Man kann noch nichts sagen«, entgegnete Simon Green.
    »Ms. Balanchine«, sprach die Richterin mich an, »sind Sie mit dieser Regelung einverstanden? Oder sollen wir vertagen?«
    Ich überlegte. Tatsächlich war ich mit dieser Regelung alles andere als einverstanden, aber eine Vertagung schien mir eine ebenso schlechte Idee zu sein – ich legte keinen Wert darauf, noch eine Nacht im Gefängnis oder sonst wo zu verbringen. Wurde die Angelegenheit vertagt, würde ich zwar nicht nach Rikers Island geschickt, aber es bestand durchaus

Weitere Kostenlose Bücher