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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Lehrer versicherten mir mit Nachdruck, ich solle mir so viel Zeit nehmen, wie ich bräuchte. Im Großen und Ganzen war meine Rückkehr ins Schulleben leichter, als ich erwartet hatte.
    Win war bereits im Labor von Rechtsmedizin II, als ich kam. Er sprach mich nicht darauf an, dass er zweimal bei mir angerufen und ich seinen Vater kennengelernt hatte, falls Charles Delacroix sich denn überhaupt dazu herabgelassen hatte, mit seinem Sohn über mich zu reden. Er erwähnte meine Abwesenheit überhaupt nicht, sondern sagte nur: »Ich musste unsere Zähne ohne dich vorstellen.«
    »Und, wie lief es?«, fragte ich.
    »Gut«, sagte er. »Wir haben eine eins minus bekommen.«
    Für Dr. Lau war das eine wirklich gute Note. Sie war streng. Streng, aber gerecht. »Nicht schlecht«, sagte ich.
    »Anya«, begann Win, doch in dem Moment führte Dr. Lau den Unterricht fort. Ich war eh nicht in der Stimmung für sinnlosen Smalltalk mit Win.

    Ich bekam ein einmonatiges Attest für den Fecht-Unterricht, worüber ich mich freute. Mir fehlte selbst die Kraft für Scheinangriffe. Die Verwaltung gewährte auch Scarlet ein einmonatiges Attest, damit sie sich um mich kümmern konnte. Ein weiterer Beweis dafür, wir zerknirscht die Schule war.
    Scarlet nutzte die freie Zeit, um sich auf ihr baldiges Vorsprechen für Macbeth vorzubereiten. »Du liest doch eh alle Zeilen mit mir. Warum versuchst du es selbst nicht mal?«, fragte sie. »Du könntest Lady Macduff sein oder Hekate oder …«
    Tatsächlich hatte ich keinen guten Grund, es nicht zu tun, außer dass ich müde war und nicht gerade in der Stimmung, mich auf die Bühne zu stellen, nachdem mein Bild eine Woche lang in allen Nachrichten zu sehen gewesen war.
    »Du kannst wegen dem, was passiert ist, nicht einfach mit allem aufhören«, sagte Scarlet. »Du musst weitermachen. Nächstes Jahr musst du dich so oder so fürs College bewerben. Deine außerschulischen Tätigkeiten sind jedenfalls ziemlich farblos, Annie.«
    »Was? Die Tochter eines berühmten Verbrechers zu sein zählt nicht als außerschulische Tätigkeit?«
    »Nein«, sagte Scarlet. »Die Vergiftung eines Ex-freundes könnte allerdings schon mal ein Anfang sein.«
    Sie hatte ja recht. Natürlich hatte sie recht. Wenn Daddy noch lebte, hätte er dasselbe gesagt. Nicht das mit den außerschulischen Tätigkeiten. Aber das mit dem Weitermachen.
    »Wie du willst«, sagte ich.
    Scarlet warf mir ein uraltes Taschenbuch von Macbeth zu.
    Wir lasen den Text, bis die Stunde vorbei war, dann gingen wir essen, wo Win bereits an unserem angestammten Tisch wartete.
    Scarlet sagte, ich solle mich setzen, sie hätte Imogen versprochen, das Essen für uns beide zu holen. »Ach, bitte«, sagte ich. »So schwach bin ich auch nicht.«
    »Sitz!«, befahl sie. »Pass auf, dass sie auch sitzen bleibt, Win.«
    »Ich bin doch kein Hund!«, protestierte ich.
    »Mach ich«, sagte Win.
    »Kommandiert ganz schön rum«, bemerkte ich.
    Win schüttelte den Kopf. »Ich muss zugeben«, begann er, aber hielt dann inne. Ich hoffte inständig, dass er nicht von seinem Vater reden würde oder über ein gewisses anderes Thema, das zu besprechen ich nicht besonders viel Lust hatte. Vielleicht spürte er mein Unbehagen. »Ich muss zugeben«, wiederholte er, »dass ich deine Freundin unterschätzt habe. Scarlet wirkt auf den ersten Blick ziemlich albern, aber sie hat deutlich mehr auf dem Kasten.«
    Ich nickte. »Das Beste an Scarlet ist ihre Loyalität.«
    »Das ist wichtig«, stimmte er zu.
    Auch wenn ich niemals mit Win zusammen sein würde, spürte ich, dass ich gerne mit ihm befreundet wäre. Und wenn wir Freunde sein wollten, war es unhöflich von mir, ihn nicht auf die Rolle anzusprechen, die er bei meiner Entlassung aus Liberty gespielt hatte. Selbst wenn wir keine Freunde werden würden, war das unhöflich. »Ich hätte mich schon früher bedanken sollen«, sagte ich. »Weil du mit deinem Vater geredet hast, meine ich.«
    »Soll das heißen, dass du dich jetzt bei mir bedankst?«, fragte Win.
    »Ja«, sagte ich. »Danke.«
    »Kein Problem«, erwiderte er und begann, sein Mittagessen aus der Schultasche zu holen. (Ich nehme an, das Kantinenessen war für ihn keine Option.) Seine Mahlzeit bestand aus verschiedenen Gemüsesorten, darunter eine gebratene Süßkartoffel und etwas langes Weißes, das wie eine Möhre aussah.
    »Was ist denn das?«
    »Eine Pastinake. Meine Mutter versucht, sie im Central Park anzubauen.«
    »Hört sich gefährlich an«, bemerkte

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